Großer Gott, musste ich pissen. Mein Hals war ausgedörrt bis in die Bronchien, mein Kopf zu schwer, um ihn zu heben und in meinem Unterleib nagte der Harndrang. Abgesehen davon hatte ich keine Ahnung, wo ich war. Meine Augen waren verschwiemelt und verklebt und ich konnte sie kaum öffnen. Als es mir schließlich gelang, das Lid meines rechten Auges einen Millimeter weit hoch zu stemmen, hackte mir das Licht in den Schädel, dass mir das Auge tränte, und ich konnte erst recht nichts erkennen. Also tastete ich. Unter mir fühlte ich eine klumpige, borstige Masse, meine Beine waren in so etwas wie ein verschwitztes, zerdrücktes Laken verheddert. Ich selbst war bis auf die Unterhosen nackt und befand mich – soviel konnte ich inzwischen sehen – nicht im Freien. Trotzdem war es heiß. Ich tastete meinen Körper ab und stellte fest, dass ich keine Schmerzen hatte, die nicht von einem Kater herrühren konnten. Immerhin.
Immer noch einäugig gewann ich erste optische Eindrücke meiner Umgebung. Ich lag am Rücken und machte über mir verschwommen einen grün gestrichenen Plafond aus. Das war schlecht.
Grün ist zwar die Farbe der Hoffnung, aber auch die der Spitalswände.
In Afrika im Spital aufzuwachen,
war einer meiner am wenigsten dringenden Wünsche. Gleichzeitig hätte man mich, Visakarteninhaber und Tourist, bestimmt nicht in die Besenkammer des örtlichen Krankenhauses gesteckt. Und größer als eine Besenkammer war dieser Raum nicht. Vielleicht war das aber auch die Sonderklasse und das Besondere daran war, dass ich mein Zimmer nicht mit 40 infektiösen Siechen teilen musste. Der Raum selbst war zur Gänze in mattem Grün gestrichen und wurde von meinem Sonderklassebett beinahe vollständig ausgefüllt. Auf der einen Seite war das Bett ganz an die Wand gerückt, sodass zur anderen Wand etwa eine Armlänge Platz blieb. Als Matratze diente ein formloses Objekt, das mit etwas gefüllt war, über das ich nicht nachdenken wollte. Etwas Borstigem jedenfalls. Gegenüber der Stirnwand, die sich direkt hinter meinem Kopf erhob, befand sich eine einfache Tür, daneben ein Fenster ohne Glas nicht größer als eine Schießscharte. Es war mit einem grünen Fensterladen aus schmalen Holzbrettchen verschlossen. Unter der Tür und rund um den Fensterladen drang brutal das Licht herein. Das restliche Mobiliar bestand aus einem Nagel in der Wand, an dem säuberlich mein Hemd und meine
Hosen hingen. Darunter standen meine Schuhe. Von draußen war das Gackern von Hühnern zu hören, in einem metallenen Topf wurde brutzelnd irgendetwas zubereitet. Vermutlich war ich nicht in einem Spital.
Ich wälzte mich zum freien Bettrand und versuchte, so hinauszufallen, dass ich mich aus einer Art Abendgebetshaltung langsam auf die Beine hieven konnte. Dabei trat ich eine Flasche Wasser um, die jemand neben mein Bett gestellt hatte. Die Flasche war originalverschlossen, Kondenswasserperlen kullerten ihre kühle Plastikhaut hinunter. Ich riss den Verschluss auf und soff wie ein Rind. Anschließend kippte ich mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht und noch eine über den Kopf und schon ging es mir nur noch erbärmlich. Das Gepolter und Geplätscher meiner Morgentoilette musste die Menschen auf der anderen Seite der Tür darüber in Kenntnis gesetzt haben, dass der Vollidiot, der gestern wie auch immer hier angekommen war, sein Bewusstsein wiedererlangt hatte.
Ich war ganz genau in der Verfassung, langwierige, diplomatisch äußerst heikle Erklärungen auf Französisch zum Besten zu geben, konnte allerdings auch nicht mehr lange in meiner Klause bleiben,
denn ohne Klo würde meine Lage in Kürze um einiges heikler sein. Also zog ich meine Hosen an, streifte mein Hemd über und fand in den Taschen mein Telefon, meine Brieftasche – komplett mit Geld, Visakarte und allem – und meinen Pass. Wer immer mich hierher gebracht hatte und wo immer ich war, die Menschen meinten es scheinbar gut mit mir.
Ich öffnete beherzt die Tür und taumelte im Moment zurück, als hätte ich einen Schmelzofen aufgerissen. Es war grell und heiß, ich war blind, schwitzte und mein Kreislauf brach in sich zusammen wie eine Illusion.
„Ça va, mon ami!“, sagte eine uralte, spöttische Stimme. Mit zusammengekniffenen Augen schälte ich eine unglaubliche Erscheinung aus dem gleißenden Licht: Vor mir saß eine alte schwarze Frau mit einer riesigen Brille und einem pinkfarbenen Kopftuch auf einem winzigen Schemel, fischte mit einer Kelle gebackene Mäuse aus einem Topf und füllte sie in kleine Säckchen. Das siedende Öl lief ihr über die Finger und sie grinste wie ein Kürbis zu Halloween. Ihr dürrer Körper war nachlässig in einen zinnoberroten Morgenrock gewickelt.
„Ça va, ça va“, krächzte ich zurück. „Haben Sie eine Toilette?“
„Oui, oui, mon chéri. Direkt da hinten.“
„Merci. Pardon. Ich ... Moment, bitte.“
Ich machte das ganz wundervoll.
Ich wankte durch einen Hof auf ein Holzgatter zu, das in der Richtung lag, in die die Alte gedeutet hatte. Mit zittrigen Fingern fisselte ich eine Schnur los, die das Gatter geschlossen hielt, dahinter kamen Hühner und Truthähne mit ruckelnden Köpfen auf mich zugestakt, ihre hässlichen Vogelaugen zu mir in die Höhe gewandt. Ein Hühnergehege. In einer Ecke befand sich ein gemauerter Verschlag mit einer Türe aus rostigem Blech, der wohl das Klo sein musste. Ich pflügte mich durch das störrische Federvieh, das sich offenbar sehr zurückhalten musste, um nicht in meine Waden zu picken, öffnete die Tür und bekam meine Vermutung bestätigt: Geruch und Beschaffenheit des Verschlages ließen keine Zweifel aufkommen – das war eine Toilette. Erleichtert ließ ich meinem Harn freien Lauf und mit dem damit verbundenen Wohlgefühl stellte sich ein aktiveres Interesse dafür ein, auf wessen Klo ich gerade losschiffte. Draußen kicherte die Alte und rief irgendetwas auf Wolof.
Das Dach der Toilette bestand aus einem Stück Wellblech, das oben auf den gemauerten Verschlag gelegt worden war. Zwischen Mauerkante und Blechdach blieb genug Platz, um hinauszuspähen.
Und das tat ich; offenbar waren meine einzigen
Verbündeten in diesem Land seine Toiletten.
Diese hier lag an der hinteren Schmalseite eines länglichen Hofes, der links von einem niedrigen, ärmlichen Gebäude begrenzt wurde, in dem sich auch mein Sonderklasseraum befand, während rechts ein etwas verfallenes, aber schönes Wohnhaus stand. Zum Hof hin öffnete sich eine große, überdachte Terrasse mit gemauertem Geländer, die man über zwei kurze, geschwungen Vortreppen erreichen konnte. Von hier aus führten mehrere hohe Holztüren zu den Räumen des Wohnhauses. Entlang der Hauswände und Treppengeländer standen grobe Tontröge, aus denen üppige Pflanzen wucherten. Sie spendeten der Terrasse Schatten und sorgten für eine sehr freundliche Atmosphäre. Wenn die Hitze nachließ, spielte sich auf der Terrasse vermutlich das Leben der Bewohner ab.
Leider hinderte mich die florale Pracht, genauere Aufschlüsse darüber zu gewinnen, wer sich aktuell dort aufhielt. Die Worte der Alten schienen sich jedenfalls an jemanden zu richten, der im Schatten des Hauses auf der Terrasse saß.
An dem mir gegenüber liegenden Ende wurde der Hof von einer Mauer abgeschlossen, die von
enormen Hibiskussträuchern verdeckt wurde. In der Mitte dieses grün-violetten Blütenmeeres war eine kleine eiserne Tür zu erkennen, die wohl auf die Straße führte.
Mitten im Hof saß die seltsame Alte, tropfte Teig ins heiße Öl und fischte die fertigen Backstücke heraus, wobei sie sich ununterbrochen die Finger verbrennen musste. Aber das schien ihr nicht das Mindeste auszumachen. Nur einmal hielt sie kurz inne, schob sich die Brille ganz vor auf die Nasenspitze, um über deren Rand in Richtung des Hauses zu spähen und einen knatternden Wortschwall loszulassen. Mein morgendlicher Strahl war längst versiegt, aber ich blieb noch einen Augenblick stehen, um aus der Deckung heraus vielleicht doch noch Informationen über meine Gastgeber zu gewinnen.
Auf die Worte der Alten hin öffnete sich eine der Türen in jenem Teil des Hauses, der am Weitetesten von mir entfernt lag. Eine kichernde junge Frau hüpfte die Stiegen hinunter quer über den Hof und verschwand in einem der Zimmer, das auf derselben Seite lag wie meines. Vermutlich kam die Frau gerade aus dem Bad, sie hatte nur ein Handtuch umgeschlungen und ihre Haare standen wie ein
drahtiger Flaum von ihrem Kopf ab. Abgesehen von der merkwürdigen Frisur war die junge Frau sehr hübsch und mit einem Schlag waren die Erinnerungen an den gestrigen Abend wieder da: Susanne, meine scheußliche Einsamkeit, meine Depression angesichts dieser schönen und unnahbaren Menschen, der wahnsinnige Rausch und schließlich der Absturz am Klo des Alizé.
Dieser letzte Teil des Abends lag dunkel und unscharf am Rande meines Bewusstseins, einzig der fürchterliche Gestank, der mich auch hier wieder umgab, hauchte meinen letzten Erinnerungen daran Leben ein.
Ich schloss meine Hosen, stieß die Tür auf und holte tief Luft. Die Alte johlte mir etwas zu und fuchtelte kichernd mit ihrem knöchernen Zeigefinger durch die Luft, wie um mich zu tadeln. Offenbar hatte sie bemerkt, dass ich das Klo als Ausguck missbraucht und einen Blick auf ihre Urururenkelin geworfen hatte. Ich grinste zerknittert und tat kund, dass es mir schon viel besser ging. Ich stand in der prallen Sonne, der Hof begann sich augenblicklich um mich zu drehen und ich hatte Mühe, nicht rücklings in die Hühnerfarm zu stürzen.
„Das ist gut zu hören. Allerdings siehst du unglaublich beschissen aus.“
Assane! Sein singendes, süffisantes Englisch erschien mir wie ein Rettungsring.
„Um ehrlich zu sein: Es geht mir unglaublich beschissen.“
„Das hätte ich dir gestern schon sagen können.“
„Vielleicht hätte mich das gestern aber nicht so interessiert.“
Er lachte. „Es gibt Orangensaft und Kaffee und falls du dich danach fühlst, ich habe auch Croissants.“
„Was ist das hier? Ein Club Med?“
„Der Club Medina.“
Assane stand am hinteren Ende der Terrasse und ich
wankte tapfer die wenigen Stiegen zu ihm hinauf. Er hatte zwei gepolsterte Hocker und einen kleinen Tisch vorbereitet, auf dem ein europäisches Frühstück auf mich wartete. Als Tischdecke diente eine arabische Zeitung.
„Nimm Platz!“
Assane war ganz Maître in seinem Club Medina und mir konnte das nur recht sein. Ich schlürfte Kaffee, aß das Croissant, spülte es mit Orangensaft hinunter und frühstückte alles in allem wie eine Maschine. Langsam ging es mir besser.
„Assane?“
„Ja, bitte?“
„Danke, Alter.“
„Keine Ursache.“
„Nur eins: Warum hast du mir nicht einfach alles abgenommen, was ich hatte, und mich alten Deppen in diesem verpissten Abort liegen lassen?“
„Du hast nicht so besonders viel dabei gehabt.“
Ich lachte.
„Außerdem geht es mir eigentlich um deinen Wagen.“
Assane zog die Pajeroschlüssel aus seiner Tasche.
„Der ist nur gemietet ...“
Seine Miene verfinsterte sich. „Egal“, meinte er
hart. „Wir fahren nach Mauretanien und verkaufen den Wagen. Und wenn du mir blöd kommst, verscharr ich dich dort in der Wüste.“
Im nächsten Augenblick platzte Assane fast vor Lachen. Er bog sich wiehernd auf seinem Schemel und als er seine Sonnenbrille abnahm, konnte ich sehen, dass die gestrige Nacht auch ihm zugesetzt hatte. Langsam gewann ich die Fassung zurück und sank auf meinem Hocker zusammen. Ich starrte die Reste des Frühstücks an, die Zeitung, meine nackten Zehen. Zwischendurch dachte ich kurz an meine gestrigen Schaufelphantasien.
Ich wusste nicht einmal, wo ich war. Ich hatte einfach nur Glück gehabt.
„Nang ma baal. Ich musste diesen Witz einfach machen.“
„Verstehe ich.“
Assane war wieder ernst geworden. „Ganz abgesehen von Mauretanien. Du könntest uns mit dem Wagen wirklich sehr helfen.“
„Ah ja?“
„Ja. Die Sache ist so. Mein Onkel ist gestorben und es gibt hier in Dakar nächste Woche eine Gedenkfeier. Leider wohnen einige meiner Verwandten über 100 Kilometer südlich von hier und wir haben nicht genug Autos, um alle herzubringen. Reisen ist teuer im Senegal. Aber schließlich“, verfiel Assane wieder in seinen spöttischen Geschichtenerzählertonfall, „hat der große Allah dich und deinen Geländewagen zu mir geschickt und dein Leben in meine Hände gelegt. In seiner Güte hat er dir auch gleich eine Möglichkeit gegeben, dich zu revanchieren. Also fahren wir nach Ndangane und holen meine Familie.“ Assane lächelte freundlich und meinte: „Im Ernst. Es würde dir gefallen.“
Mir war übel und das war gut so. Es hinderte mich daran nachzudenken. Ich saß einfach da und sagte: „Klar. Ich mag es, wenn ich in einem Land etwas zu tun habe.“
Assane sah mich an. „Du hilfst uns?“
„Ich habe den Wagen für zwei Wochen und ich fahre. Wohin ist mir egal.“
Damit war das geklärt. Assane erhob sich, ging zu der Alten im Hof hinüber und knurrte auf Wolof los. Zum ersten Mal, seit ich zu Bewusstsein gekommen war, hielt die Erscheinung bei ihrer märtyrerischen Backwarenerzeugung inne und sah mich über den Rand ihrer Brille hinweg an. Wegen der katerbedingten Trübung meiner Sicht und der fettverschmierten Riesenbrille auf ihrer Nase hatte ich ihre Augen bisher nicht erkennen können, aber jetzt sah ich, dass sie freundlich und intelligent waren. Sie hatten eine starke Ähnlichkeit mit Assanes Augen.
Die alte Frau erhob sich, wischte sich die Hände in ihrem Morgenmantel ab, zupfte ihn zurecht und kam lächelnd auf mich zu.
„Merci, mon chéri“, meinte sie und kam die Treppe herauf. Dabei stützte sie ihre rechte Hand in die Hüfte, sie hinkte leicht. Ich konnte gar nicht anders, als mich zu erheben, ihr einige Schritte entgegen zu gehen und ihr in stümperhaftestem Französisch meinen Platz anzubieten. Ich muss lächerlich ausgesehen haben: Stammelnd, schwankend –
funkelnde Sterne tanzten in meinem verschleierten Blickfeld – die gestrige Schnapskur hatte mich zu einem gebrechlichen Trauerspiel gemacht.
Die alte Frau redete in einer Mischung aus Wolof und Französisch auf mich ein und wenn ich alles richtig zusammensetzte, war sie Assanes Großmutter und darüber hinaus sehr erfreut. Ich lächelte und nickte und sah ein bisschen betreten drein – immerhin, ich verstand kaum etwas von dem, was sie zu mir sagte, und war gestern sternhagelvoll in ihr Haus getragen worden, worunter ich in jeder Hinsicht litt. Assane assistierte mit einer Simultanübersetzung und nach und nach begriff auch ich, dass meine wirre Entscheidung, mit Assane irgendwelche Leute abzuholen, für eine große Sache gehalten wurde. Assanes Großmutter hieß Yadikon und lud mich ein, Gast in ihrem Haus zu sein, solange die Sache eben dauerte. Ich lächelte und nickte und bedankte mich artig und versuchte nebenbei, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. „Gast?“, fragte ich Assane verstohlen. „Ich dachte, wir fahren diese Leute holen.“
„Was, jetzt?“
„Na ja, ich meine 100 Kilometer, da sind wir am Abend wieder hier.“
Assane lachte laut auf und Yadikon stupfte ihm den Finger in die Seite, so wie Großmütter überall auf der Welt ihre Enkel stupfen, wenn sie wollen, dass sie sich benehmen. Assane fauchte ihr eine Übersetzung meiner Ansichten ins Gesicht und Yadikon begann, ebenfalls zu kichern.
„Mon Dieu, mon chéri“, sagte sie zu mir und „Bienvenue au Senegal“.
Ich hatte mal gehört, dass Lügen in Afrika als eine Form der Höflichkeit gepflegt wurde. Vielleicht sagte man im Senegal also zu weiten Strecken aus Rücksicht auf den Fahrer grundsätzlich „gute 100 Kilometer“ und Assanes Verwandte wohnten in Wahrheit in der Kalahari. Ich fühlte mich eher paranoid als scharfsinnig und kam nicht dahinter, wo das Problem liegen sollte.
„In Afrika ist eine Reise eine große Sache“, klärte Assane mich auf. „Man besucht einander, man muss Geschenke machen, allen muss Respekt erwiesen werden, alle haben immer etwas, um das sie einen bitten wollen, wenn man schon unterwegs ist, manche Leute wollen einander nicht begegnen und niemand hat ein Telefon. Man kann nicht einfach sagen, ‚So hier sind wir, setzt euch hinten rein, wir fahren nach Dakar.’“
„Warum?“
„Es würde nicht klappen.“
„Aber das wäre doch das Einfachste.“
„Wahrscheinlich würde es deshalb nicht klappen.“ Assane lachte wieder.
„Sehr mystisch“, schmollte ich. „Und wann geht es dann los?“
„In zwei oder drei Tagen. Ich habe in Dakar noch einiges zu erledigen, schließlich kann ich meine Großmutter mit den Vorbereitungen für das Begräbnis nicht ganz alleine lassen.“
„Kümmert sich denn niemand um sie?“ Yadikon war gute achtzig.
„Kümmern? Um Yadikon?“ Die Idee schien ihm schwachsinnig. „Sie kümmert sich um die Leute hier! Du wirst sehen, Yadikon ist eine ganz besondere Frau. Früher hat sie sehr viel getan, jetzt eben nur noch soviel sie kann. Sie ist sehr wichtig für die Nachbarschaft.“
„Sie sieht sehr freundlich aus.“
„Das ist sie. Und ich schwöre, das ist nicht leicht in diesem Land.“
Yadikon war zu ihren gebackenen Mäusen zurückgekehrt, Assane und ich setzten uns wieder. Die Terrasse gefiel mir. Der Boden war aus rohem Beton gegossen, die Wände waren spröde und dick mit grüner Farbe gestrichen. Man konnte sehen, dass hier seit Langem gelebt wurde. Überall gab es Risse und Unvollkommenheiten, wo man in Europa pedantisch eine Sesselleiste über die bröselige Kante zwischen Wand und Boden genagelt hätte, verlief hier einfach die natürliche Grenze zwischen zwei Materialien. Die Türen hatten keine Schwellen, das Dunkel im Inneren des Hauses und die schattige Veranda waren eins. Hier ein paar Tage zu bleiben, schien mir nicht absurder, als irgendwo anders zu sein. Ich fühlte mich ein wenig besser.
„Was werden wir heute machen?“
„Ich muss zum Hafen. Wenn du möchtest, kannst du mitkommen. Aber es wird nicht sehr interessant für dich sein.“
Das war mir egal. Alles war interessanter, als verkatert herumzusitzen und über gestern nachzudenken. Über meinen Job, über Susanne, über das Alizé ...
„Ach ja, und wir müssen auch noch mal ins Alizé, deinen Wagen holen.“
Da freute ich mich wirklich drauf. Es ist eine Sache, ohne Bewusstsein aus einem Lokal getragen zu werden. Aber am nächsten Tag zum Kneipenwirt gehen zu müssen, um sich eine vollgekotzte Jacke oder eine Brieftasche oder eben ein Auto wiedergeben zu lassen, ist ein hartes Programm. Und es ist nicht besonders gut fürs Vergessen.
Assane hatte mir ein Bad gezeigt – angeblich hatte ich es nötig – und mir mitgeteilt, dass ich ein größeres Zimmer beziehen konnte, sobald wir mit meinem Gepäck zurück waren. Gestern hatte er mich einfach in das nächste freie Bett fallen lassen, schließlich war ich nicht ganz leicht.
Ich versuchte, die Vorstellung aus meinem Kopf zu verjagen, wie Assane mich vor dem Alizé unter den grimmigen Blicken der Türsteher in ein Taxi verfrachtet, genauso wie ich es immer mit Henning getan hatte, mich hier durch den Hof schleppt, mich entkleidet und hinlegt und sich ununterbrochen denkt: Dieser dämliche, weiße Arsch. Hoffentlich kriege ich wenigstens sein Auto.
Das Bad war schlicht und schön. Nach westlichen Begriffen war es schäbig – alle Rohre waren offen verlegt, im Kondenswasser an den Schweißnähten hatten sich Algenbärte gebildet, die grüne Dispersion blätterte von den Wänden und der Boden war roh und ungekachelt. Aber es gab ein Klo mit Muschel, ein altertümliches aber sauberes Waschbecken und ein großes Fenster mit französischen Läden, durch deren hochgeklappte untere Hälften die Pflanzen des Hofes hereinwucherten.
Das Licht war mild und der Spiegel gnädig blind, einzig die Dusche funktionierte nicht. Ich schraubte an der Armatur, der riesige, fix montierte Brausekopf röchelte. Seine Löcher waren verklebt von eingetrockneten Algen und Kalk, Wasser war hier lange nicht mehr geflossen. Etwas unter Hüfthöhe war jedoch ein weiterer simpler Auslass in das Rohr eingesetzt worden, aus dem nach einigem Gurgeln Wasser zu fließen begann. Ich ging in die Hocke, ließ mir das Wasser auf die Schultern tröpfeln und begann gemächlich, alle meine Körperteile nacheinander abzuduschen. Das Wasser war überraschend kühl und allmählich klärte sich mein Kopf.
Man musste sich nur an die einfachen Dinge halten und alles kam wieder in Ordnung: Essen, duschen, scheißen und schon ist man wieder bereit für die Welt.
„Ah, der neue Chi!“, begrüßte mich Assane und seine Großmutter assistierte mit einem frivolen „So ein Hübscher!“. Sie lachte, trug Assane einige Besorgungen auf und drückte mir ein Säckchen voll gebackener Mäuse in die Hand. Sie war eine sehr sympathische Frau und auf ihrem zerfurchten Gesicht war immer irgendwo ein Lächeln versteckt.
Assane öffnete das kleine Eisentor, das auf die Straße führte, und ich betrat Afrika. Vor vielen Jahren war ich mit einer Schauspielerin zusammen gewesen und sie hatte mich einmal mit zu einer Probe genommen. Es war lustig gewesen zu sehen, wie die Schauspieler einen Schritt neben der Bühne sofort ihr Stück vergaßen und nur noch sich selbst spielten. Ein ähnliches Gefühl hatte ich auch hier. Die Straße glich der, durch die ich gestern gefahren war; dieselben Gehsteige aus geborstenen Betonplatten, derselbe Sand, dieselben Müllhaufen, dieselben Ziegen, dieselben Bäume und Kabel und Wäschestücke und Grillöfchen. Aber die Gesichter waren anders. Jeder sah erst mich an, erkannte dann Assane und warf mir einen Blick zu, der „Ach, du bist's nur“ zu sagen schien. Ich war kein Tourist, ich war Gast und jeder schien froh zu sein, mich nicht wirklich bedrängen, beklauen oder mir etwas
verkaufen zu müssen. Die meisten Leute kamen zu uns rüber, ohne Eile, sozusagen privat, begrüßten Assane, lächelten mir zu und bekamen erklärt, dass ich meinen Wagen für die Familie zur Verfügung stellte. Jeder schien von dem Begräbnis zu wissen und alle teilten mir in verschiedenen Sprachen, die sie von einem ihrer Verwandten in Europa gelernt hatten, mit, dass das eine große Sache war. Nicht nur für Assane und die Familie. Auch für mich.
Wir standen im Schatten der Bäume zusammen und mit etwas weniger Restschnaps hätte ich wahrscheinlich rausbekommen, wer der Onkel war, dessen Begräbnis hier das Thema Nummer 1 abgab. Aber so trabte ich leicht benommen neben Assane her und freute mich über die unerklärliche Freundlichkeit, die mir nach der gestrigen Katastrophe entgegenschlug.
Nur einmal lief ich Gefahr, wieder zum exponierten, rotohrigen Außenseiter degradiert zu werden, als wir eine Horde Fußball spielender Kinder passierten und ein vielleicht achtjähriger Rotzlöffel seinen dürren Fuß auf einen selbst gemachten Fetzenball stellte und „Toubab, Toubab“ zu schreien begann. Ich dachte an meinen Kreuzweg durch die schwarze Prozession am Place de l'Independance und an
meinen Auftritt als Aussätziger im Alizé und rund um den kleinen Kicker baute sich das Gefühl, Fremder zu sein, auf wie ein Schlägertrupp. Aber gerade mit den Provokationen unter Burschen am Sportplatz hatte ich schulbedingt meine Erfahrungen und bellte frech zurück: „Ça va, El Diouf?“ Assane grinste und der Kleine rannte kreischend vor Vergnügen zu seiner Bande zurück. Ich fühlte mich erstmals ein bisschen wohl an diesem Tag.
Der Hafen von Dakar war ein Albtraum. Ihn betreten zu dürfen, hatte ein Schmiergeld von 1000 CFA gekostet, da der Pförtner spontan ein Gesetz erfunden hatte, das Weißen den Zutritt zur Hafenanlage grundsätzlich untersagte. Assane hatte sich in eine lange und elende Diskussion verwickelt, an deren Ende die unverrückbare Meinung des Diensthabenden stand, dass er, wenn ich hier schon Geschäfte machte, wenigstens auch etwas davon haben wollte.
Assane war wütend und meinte, das wäre ein Prachtbeispiel für senegalesische Dummheit gewesen. Natürlich machten nach wie vor nur die Weißen wirklich gute Geschäfte im Senegal, aber alles, was seinen Landsleuten dazu einfiel, war, ihnen dafür bockig ein paar Zerquetschte abzupressen.
Wir hetzten über eine gewaltige Ladezone, die Sonne brannte gnadenlos auf uns herunter und wir hatten einiges Glück, nicht von einem der umherrasenden Ladetrucks platt gefahren worden zu sein. In Mole 1, wo wir umringt von Krüppeln, Zollbeamten und Arbeitertrupps auf einen von Assanes Bekannten warteten, wurden hauptsächlich Gebrauchtwagen aus Rotterdam verschoben. Assane stritt mit einem fetten Zöllner und ich lehnte mich an einen rostigen Zaun, der wenigstens zum Teil im Schatten lag. Von der anderen Seite streckte ein Mann ohne Beine seinen Arm durch den Zaun und bat um Almosen. Ich sagte ihm, dass ich nichts bei mir hatte und auch kein reicher Geschäftsmann war, aber der Alte ließ sich nicht beirren und forderte mich mit brüchiger Stimme auf, ihm wenigstens 10.000 CFA zu geben, da er seine Einnahmen mit dem Hafenaufseher teilen musste. Ich wiederholte wahrheitsgemäß, dass ich kein Geld bei mir trug, und der Alte starrte mir mit gelb unterlaufenen Augen direkt in mein schlechtes Reiche-Leute- Gewissen. Ich hätte sein Schicksal auch mit 100.000 CFA nicht wirklich geändert, trotzdem fühlte ich mich reflexartig verpflichtet, ihm wenigstens irgendetwas zu geben.
Also überreichte ich dem Mann das Einzige, was ich bei mir hatte, und der Bettler glotzte überrascht auf das Säckchen voll gebackener Mäuse in seiner Hand.
„Wenn du mir schon nichts geben willst, dann nimm mich wenigstens mit nach Europa!“, zischte der Alte. Er wackelte auf seinen Händen davon, den in Lumpen gehüllten Stumpf seines Leibes schleifte er nach. Das Säckchen hielt er mit den Zähnen fest. Aus einiger Entfernung hörte ich ihn „Moussa Diop“, knurren, „eine Invitation für Moussa Diop!“ Dann war er hinter einem Haufen Müll verschwunden. Die Hitze blieb.
Assane hatte seinen Zöllner ebenfalls abgefertigt und kam zu mir in den Schatten.
„Gebackene Mäuse stehen als Währung im Almosengeschäft nicht gerade hoch im Kurs, was?“
Assane grinste. „Wie kommst du darauf?“
„Ich habe einem von den Bettlern hier Yadikons gebackene Mäuse geschenkt. Er war nicht gerade begeistert.“
„Und du?“
„Was, und ich?“
„Hast du dich gut dabei gefühlt?“
„Nein, nicht so besonders.“
„Dann solltest du deine gebackenen Mäuse zurückverlangen.“
„Eine sehr charmante Idee.“
„Aber es stimmt. Mit dem Almosen tut man in erster Linie sich selbst etwas Gutes. Wer viel Almosen gibt, darf sich bei uns sogar etwas von seinem Marabout wünschen. ‚Marabout’, sagt man dann, ‚ich bin ein guter Mann. Bete, damit ich Geld bekomme.’“
„Das sollte ich mal mit den Leuten von VISA diskutieren.“
Assane lachte. Wir standen nebeneinander im Schatten und warteten. Es roch nach fauligem Hafenwasser, irgendwo hier in der Nähe waren vermutlich Hehlerei und Bestechung erfunden worden und die Türen der Autos, die in Mole 1 verladen wurden, waren zugeschweißt, weil sie den Hafen von Dakar anderenfalls nur als geplünderte Gerippe verlassen hätten.
Das war kein Ort des Vertrauens und der Verbrüderung, aber trotzdem wurde mir Assane mit jeder Stunde, die ich mit ihm verbrachte, sympathischer und ich war froh über seine Gesellschaft. Vielleicht hatte ich ja mitten in dem Chaos, in das sich mein Urlaub, oder besser noch, mein ganzes Leben verwandelt hatte, eine ganz rare Form von Glück gehabt, das sich in Assanes hagerer Gestalt materialisiert hatte.
Schließlich tauchte Assanes Bekannter auf. Ein Franzose mit schaufelgroßem Kinn, dessen feister Wanst die Knöpfe eines lächerlichen 70er-Jahre Hawaii-Hemdes zu sprengen drohte. Aus den klaffenden Lücken in der Knopfleiste quoll schwarz und borstig seine Körperbehaarung, die wenigen Haare, die auf seinem Kopf verblieben waren, hatte er zu einem schütteren Rossschwanz gebündelt. Ich hätte dem Kerl nicht einmal die Hand gegeben, aus Angst, sie nicht zurückzubekommen. Ohne Zeit für Begrüßungsreden zu verschwenden, machten wir uns auf den Weg in das miefige Büro eines Frächters, der seine gesamte Logistik mit einem vollgeschmierten Wandkalender und einer Bargeldkassa organisierte. Der Franzose schnaufte Assane von oben herab seine Sicht der Dinge ins Gesicht und der Frächter ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er von Assane höchste Dankbarkeit erwartete, allein dafür, dass er mit ihm sprach. Geldverdienen war ihm Senegal scheinbar auch keine sehr erhebende Sache. Im Laufe einer zähen Diskussion kam zutage, dass das Auto, das Assane von einer Bekannten geschickt bekommen hatte, um es in Dakar zu verkaufen, noch nicht durch den Zoll war. Irgendjemand hatte vergessen, irgendjemanden zu schmieren.
Vor dem Haupteingang winkte uns Assane ein Taxi heran. Er sah finster und frustriert aus, aber wir mussten noch ins Zentrum, um anderen Problemen auf den Grund zu gehen: Omar, ein Bekannter von Assane, hatte mit Assanes Tante Colette ein Geschäft gemacht und behauptete nun, Colette hätte ihn hereingelegt.
Also zog Assane los, um sich neben seinem eigenen auch noch den Ärger von Colette und Omar aufzuhalsen. Wir fuhren an einem Markt vorbei, kreuzten den Place de l'Independance und querten das Viertel, in dem ich mich auch mit dem Team zumeist aufgehalten hatte. Die Gegend wirkte feindlicher, jetzt, da ich in einem klapprigen Taxi saß, und Assane starrte mürrisch zum Fenster hinaus auf die Schnorrer und Taschendiebe, die aggressiven Verkäufer und Touristengruppen. In den Gassen um den Sandaga Market kam der Verkehr zum Erliegen, also stiegen wir aus und drängten zu Fuß durch die Menge.
Assane hielt sich schräg hinter mir und tat sein Bestes, uns all die Händler und Bettler vom Leib zu halten, die ihn mit ihrem penetranten „Ey, Grand, pst pst“ dazu bewegen wollten, mich in ihre Fänge zu lotsen. Ich war benommen und müde und der Sandaga Market traf mich wie einen Keulenschlag. Eine Unzahl von Geschäften klebte an der eigentlichen, riesigen Markthalle wie Waben und auch die Gassen rund um dieses Hornissennest des Einzelhandels waren verstopft von Marktständen, die unter der Last der enormen Haufen von kopierten westlichen Markenkleidern, Kassetten, CDs und Ramsch für Touristen beinahe zusammenbrachen. Dazwischen rannten Jugendliche auf und ab, mit zehn Baseballmützen auf dem Kopf und je einem Armvoll Hosen und einem voll Hemden und brüllten allem, was weiß war und sich bewegte „Bon marché, bon marché!“ ins Gesicht. Die öffentlichen Schrottbusse pflügten sich mit nasal schnarrenden Hupen durch das Chaos und über allem prangte ein handgemaltes Maggi- Logo, das die Front der Markthalle zierte. Vor einem Supermarkt waren einige Ziegen angebunden, ein Schild wies sie als „offre spéciale“ aus. Assane steuerte mich im Windschatten größerer
Touristengruppen, die die marktschreierischen Angriffe der Händler praktisch vollständig absorbierten, durch die Gassen des Marktgebiets und wir kamen gut voran. Nur ein hünenhafter Schwarzer mit Rastas und Augen wie taubes Gestein war nicht von unserer Seite zu bringen. Er war bekifft wie ein Emir, laberte wirres Zeug und versuchte zwischendurch, mich mit dem stereotypen Satz: „Come, see me shop in Village Artisanal. Buy me masque très antique“ in sein Geschäft zu locken. Assane flüsterte mit ins Ohr, ich solle „Bëgguma dara“ – „Ich brauche nichts“ – sagen und ich sagte „Bëgguma dara.“
Wenn das eine Wirkung hätte haben sollen, verfehlte ich sie vollkommen und der Rastahüne wiederholte verständnislos: „Come, see me shop in Village Artisanal. Buy me masque très antique.“
So ging das einige Male hin und her:
„Come, see me shop in Village Artisanal. Buy me masque très antique.“
„Bëgguma dara.“
„Come, see me shop in Village Artisanal. Buy me masque très antique.“
„Bëgguma dara!“
„Come, see me shop in Village Artisanal. Buy me masque très antique.“
„Bëgguma dara!“
Bis unser Begleiter offenbar den Spaß verlor und versuchte, seinen Tag mit einem letzten Mega-Offert zu retten: „Ok, come see me factory, where we make masque très antique.“
Assane und ich prusteten gleichzeitig los und auch der Rasta hustete so etwas wie ein Lachen heraus. Damit war die Sache erledigt und Assane zog mich rasch durch eine winzige Türe in den Hinterhof eines schönen, einstöckigen Wohnhauses, das wir offenbar seit geraumer Zeit umkreisten.
„Ich wollte nicht, dass er uns hier hineingehen sieht,“ meinte Assane, während er mich über den Hof in das Wohngebäude führte. „Der wäre glatt mitgekommen und hätte von meiner Tante eine Provision dafür verlangt, dass er dich hierher gebracht hat. Sie ist Schneiderin.“
Schneider sind als märchenhaft dünne Menschen bekannt und das schloss offenbar auch Schneiderinnen mit ein. Assanes Tante war dünn wie schwarzes Papier und kam uns in leuchtend bunte Tücher gehüllt entgegen. In ihrem knochigen Gesicht wirkten die Augen, als hätten sie die Größe von Tennisbällen, ihre Hand zu drücken, erschreckte mich. Vermutlich war sie krank.
Sie bot uns mit großer Freundlichkeit Ataya an und wir nahmen in einem Raum Platz, der jeder Hippie-Kommune zur Ehre gereicht hätte. Überall hingen gebatikte Tücher, grob bedruckte Stoffe zierten die Sitzgelegenheiten und in allen Ecken des Raumes qualmten Räucherstäbchen. Die Tante lächelte und ich machte mir Sorgen, ihr Kopf könnte entlang dieses Lächelns auseinanderbrechen.
Ich begrüßte sie freundlich und sie erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden, indem sie mir die ersten paar Litaneien jener traditionellen
senegalesischen Begrüßung beibrachte, die die Menschen hier jedem noch so unerfreulichen Gespräch voranstellten wie einen Puffer.
„Na nga def?“ fragte man, worauf die Antwort „Maa ngi fi“ und die Gegenfrage „Na nga def?“ zu folgen hatte. Dann erkundigte man sich mit „Naka wa keur gi?“ nach dem Wohl der Familie, um die entsprechende Gegenfrage prompt mit „Si jam“ – „Sie lebt in Frieden“ – zu beantworten. Dieses Spielchen konnte minutenlang hin und her gehen, bis alle Umstände vom Stand der Ernte über die Qualität getaner Reisen bis zum Verlauf der Geschäfte und der Gesundheit gemeinsamer Bekannter abgefragt waren. Neben dieser kleinen Unterrichtseinheit hauchte sie Assane bisweilen einzelne Sätze in einem so weichen und verletzlichen Wolof hin, wie ich es noch nie gehört hatte. Vermutlich konnte man als Senegalese nur so sprechen, wenn man bereits an der Schwelle zum Tod stand. Assane blaffte im üblichen rauen Tonfall zurück und seine Miene verdüsterte sich weiter.
Obwohl Colette mit dem Atayageschirr klapperte, richtete er unvermittelt die Frage an mich, ob ich etwas trinken wolle. Ich lehnte mit dem Hinweis auf den Ataya ab, Assane schickte dennoch einen von
drei kleinen Buben, die während der ganzen Szene still auf einem Sessel gekauert waren, mit einem 1000-CFA-Schein los, Cola zu kaufen. Colette stellte das Atayageschirr ab und setzte sich. Ihre Stimme war jetzt etwas fester. Sie sah mich an und richtete einen langen, eindringlichen Redeschwall an mich. Ich verstand natürlich kein Wort und wusste nicht, was ich tun sollte. Also wetzte ich nervös auf meinem Hocker herum und grinste blöd. Assane gab mir mit der Hand ein sachtes Zeichen, locker zu bleiben, und ließ ebenfalls eine Rede vom Stapel, deren Adressat wiederum das kleine Tischchen in unserer Mitte zu sein schien. Offenbar sprechen Senegalesen die Person, mit der sie gerade Ärger haben, nicht gerne direkt an.
Der kleine Bub huschte mit zwei 0,33er-Flaschen Cola herein und stellt sie vor uns hin. Assane öffnete sie, reichte mir die eine, nahm selbst einen Schluck aus der anderen und stellte sie zurück auf den Tisch.
„Ñu ngi dem“, meinte er.
Beim Hinausgehen streichelte er dem Kleinen den Kopf, Colette stand auf, aber wir verabschiedeten uns nicht. Die drei Buben stürzten sich auf das Cola, die Türe schloss sich hinter uns.
„Was war das denn?“
„Colette ist eine dumme Frau. Mein Freund Omar ist Händler. Er hat bei ihr Kleider für seinen Bruder in Italien bestellt und ihr Geld für Stoffe und Farben gegeben. Das Geld ist jetzt weg, aber Farben und Stoffe gibt es auch nicht.“
„Und was passiert jetzt?“
„Nichts. Es war ein schlechtes Geschäft.“
Ich ging neben Assane her. Ich hätte gerne etwas gesagt, um ihn aufzumuntern, aber mir fiel nichts ein. Schlechte Tage gab es überall.
Assane hatte mich schweigend aus dem Dschungel von Centre Ville an die Küste zur Route de la Corniche geführt. Der südliche Zipfel des Cap Vert war der höchste Punkt der Halbinsel und nach Norden, gegen die Medina hin, ging es stetig bergab. In der Ferne konnten wir die Minarette der Grande Mosquée sehen, vor uns in der Senke lag das Armenviertel Rebeus mit dem Gefängnis. Assane fragte mich, ob es mir etwas ausmachte, zu Fuß zu gehen. Ich verneinte und wir schritten nebeneinander die Corniche entlang. Das Bankett der Straße ging in einen breiten Streifen von Sand und Geröll über, der zur Küste hin abrupt im steilen Abbruch der Klippen endete. Wer hier zu schnell aus der Kurve kam, konnte sich eines spektakulären Abgangs sicher sein. Unter den wenigen Bäumen saßen Händler inmitten kleiner Haufen von Obst und Kolanüssen, weit draußen vor der Bucht ragten die schwarzen Silhouetten der zerklüfteten Madeleines-Inseln aus der kahlen Platte des Atlantik.
„Siehst du das?“, fragte mich Assane und deutete auf einen belebten Küstenabschnitt zwischen dem Häusergewühl der Medina und dem Meer. „Das ist Soumbedioune. Da bin ich groß geworden.“
Soumbedioune war eine weite Bucht, in der das Leben pulsierte wie auf einer Agarplatte. Einem Herzen gleich lag ein Fischmarkt in der Mitte, im Vordergrund konnte ich das Durcheinander eines Village Artisanal erkennen. Dazwischen probten Percussion- und Tanzgruppen ihre Shows am Strand. Am Ende der Bucht thronte ein riesiger Bau in kolonialem Stil, der früher einmal ein Museum beherbergt hatte; bis Bauspekulationen um einen Hotelkomplex die Mieten in die Höhe getrieben hatten, wie Assane mir erklärte. Die Corniche sank dem quirligen Soumbedioune gemächlich entgegen und je näher wir kamen, desto mehr entspannte sich Assane. „Wir machen heute ein kleines Fest“, meinte er schließlich. „Wir kaufen Fisch, holen deinen Wagen und laden ein paar Freunde ein. Party à la sénégalaise. Es wird dir gefallen.“
Der Fischmarkt war jenseits meiner Erwartungen. Bei jedem Schritt sog ein Chaos aus Schlamm, Müll und Fischkadavern an meinen Schuhen, auf wackeligen Tischen und rohen Holzblöcken lagen Tonnen von Barschen, Muränen, Barrakudas, Brassen, Tintenfischen, Bärenkrebsen, Langusten, Aalen, Haien, Rochen, Thunfischen, Heringen, Sardinen und Tieren, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Manche waren kaum so groß wie ein Handteller, andere so wuchtig wie ein fetter Mann. Um uns toste unübertreffliches Geschrei, Fische wurden uns ins Gesicht gestreckt, die Kiemen aufgebogen, damit das saftige Rot uns von der Meeresfrische der Ware überzeugen konnte. Assane watete durch das Getümmel wie ein Reiher und richtete hin und wieder leise Fragen an einen der Händler. Hinter mir hatte sich ein Rudel von Kindern gebildet, die große Mengen von Plastiksäckchen trugen und mit „Mistah, Monsieur, pst, pst!“ meine Aufmerksamkeit zu erregen versuchten. Ich hatte allerdings nicht die Absicht, einen schleimigen Plastiksack zu erwerben und Assane hatte seinen Kauf abgewickelt, ohne dass ich es bemerkt hatte. Unvermittelt drückte er einer dicken Frau 1300 CFA in die Hand und ging weiter.
„Und der Fisch?“
„Den bringen sie schon.“ – Fantastischer Service, wenn man das Vertrauen aufbringen konnte. Assane schlenderte zu einem ruhigeren Teil des Marktes. Wir waren näher am Wasser, die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und es war kühler hier. Zwischen den hochgezogenen Booten – Pirogen heißen die, erklärte mir Assane – hatten Frauen kleine Tischchen aufgebaut, wo sie Fische ausnahmen und Gewürze verkauften. Einer der kleinen Jungen, die hinter mir hergelaufen waren, brachte in einem Plastiksack unseren Kauf und reichte ihn einer der Frauen, die mechanisch mit dem Putzen begann. Sie entfernte die Schuppen, dann öffnete sie mit einem kleinen Schnitt unterhalb der Kiemen die glitschigen Körper und riss die Innereien mit einer geschickten Drehung der Finger heraus. Sie hatte Glück gehabt mit unseren handlichen Brassen. Im Hintergrund sah ich drei Frauen mit einem kalbsgroßen Barsch ringen. Assane kaufte Senf, Salz und Pfeffer in winzigen Säckchen, ließ sich einige Zwiebel geben und bezahlte am Ende 400 CFA. Die Frau verpackte unsere Fische, der kleine Junge schnappte sich das Paket, steckte es in seinen Plastiksack und trug es hinter uns her. In Assanes Haus kassierte der Kleine eine Handvoll Münzen und rannte zurück zum Markt. Das war Arbeitsteiligkeit.
Yadikon empfing uns freundlich und vollführte angesichts der Fische kichernd einige schlurfende Tanzschritte – trotz ihrer 80 schien sie sich über die angekündigten Gäste zu freuen. Assane brachte den Fisch ins Wohnzimmer, wo es einen Kühlschrank gab und Yadikon wies mir ein schön hergerichtetes Zimmer zu, das vom hinteren Ende der Terrasse aus zu erreichen war. Im Halbdunkel des Raumes fegte eine kleine Frau den Boden. Sie war vielleicht sechzehn Jahre alt, hatte schiefe Zähne, unordentliches Kraushaar und beäugte mich argwöhnisch. Wenn man sie in ihrem schmutzigen Wickelrock und dem ausgeleierten T-Shirt dastehen sah, kam man nicht auf die Idee, dass die afrikanischen Frauen einen ordentlich nervös machen konnten. Ihr Besen war nichts weiter als ein struppiges Büschel Reisig und ihre Miene erinnerte mich an die Blicke, die Kurts entblößter Hintern geerntet hatte: Neugier ohne Freundlichkeit.
Wir standen einander einen Augenblick gegenüber und als Yadikon hinter mir ins Zimmer geschlurft kam, wurde die kleine Frau unverzüglich in den Hof hinaus gescheucht.
Der Raum selbst war mit einem Schrank, einer Kredenz und einem altertümlichen Doppelbett
reich möbliert, eine kleine Türe führte in das Bad, in dem ich mir heute Morgen kniend den Dreck der vergangenen Nacht abgewaschen hatte. Wenn ich Yadikon richtig verstand, hatte ich es zu meiner alleinigen Verfügung.
„Ein tolles Zimmer, danke sehr. Wer lebt sonst hier?“ fragte ich Assane, als wir wieder auf den Hof hinaus traten.
„Niemand im Speziellen. Es ist ein Gästezimmer. Yadikon nimmt gerne Menschen bei sich auf.“
Der Anblick des Alizé versetzte meiner Laune einen gehörigen Dämpfer.
Wir waren noch eine Weile im Hof gestanden, Yadikon und Assane hatten der kleinen Frau Instruktionen betreffend die Zubereitung des Fisches erteilt und dann hatten wir uns auf den Weg gemacht, mein Auto und meine Sachen zu holen.
Die Sonne war beinahe ganz im Meer versunken, die Lichter des Alizé waren noch nicht an und die Stimmung war trist, als Assane und ich aus dem Taxi stiegen. Der Parkplatz war fast völlig leer, nur mein Pajero stand verwaist in der Mitte und wir mussten jemanden finden, der uns den Schranken öffnete.
„Ey, Papillon!“ rief Assane und der Koloss von gestern Abend kam vom Hintereingang des Alizé her auf uns zu.
„Ah, Assane“, grüßte er.
Sein Gesicht verwarf sich zu einer Art Lächeln, als er mich sah, aber er reckte auch mir seine Hand entgegen. Jeder seiner Finger war so groß wie eine Augsburger Wurst, aber im Vergleich zu seinem Körper wirkten sie ganz normal proportioniert.
Ich fragte mich, wer auf die Idee gekommen war, ein solches Monster Papillon zu nennen. Assane machte
ein wenig Konversation, Papillon lachte laut und ausführlich und schließlich öffnete er uns den Schranken.
Langsam, langsam brachte ich auch diesen Teil des Tages hinter mich.
Am Weg zurück erklärte mir Assane, dass Papillon Ringer war und aus der Gegend stammte, die wir bereisen würden. Dort wurde noch die Tradition des Laamb, der senegalesischen Ringkämpfe, gepflegt und einige von Papillons Brüdern waren ebenfalls lokale Ringerchampions. Aber nur Papillon hatte es geschafft, sich in Dakar zu behaupten und Profikämpfer zu werden. Das war weniger traditionell, brachte aber einiges ein. Trotzdem musste er auch im Alizé jobben, da er praktisch seine ganze Verwandtschaft am Land ernährte. Die Ernten der letzten Jahre waren nicht besonders gewesen.
„Das ist sehr großzügig von ihm.“
„Das ist normal. Im Senegal hat bestenfalls einer von zehn Männern Arbeit. Der versorgt dann die ganze Sippe. So kann zwar jeder überleben, aber zusammensparen kann sich hier keiner was. Wenn einer Geld hat, hat er auch Ärger.“
„Apropos Geld. Ich muss unterwegs etwas abheben. Ich möchte hier nicht auf eure Kosten leben.“
„Das ist nett, aber bei Yadikon bist du Gast. Wenn wir im Sine Saloum bei meinen anderen Verwandten sind, werden wir der Familie eine Partizipation von 5000 CFA pro Tag geben.
Dafür schlafen und essen wir. Einverstanden?“
„Baax na“, sagte ich.
„Ah, du sprichst Wolof“, lachte Assane.
„Habe ich aufgeschnappt.“
Den Rest der Fahrt beschäftigte sich Assane damit, mir einfache Redewendungen in seiner Sprache beizubringen. Wolof war eine verrückte Sprache, deren Grammatik ich nicht verstand und deren Silben für den Laien kaum zu unterscheiden waren. Ich konnte mir nur wenig merken.
Zu Hause bei Yadikon erwarteten uns bereits die ersten Gäste. Omar, der Händler, stand im Halbdunkel an das Geländer der Terrasse gelehnt, ein trauriger, stiller Mann, der – wie ich bald feststellen sollte – völlig betrunken war; er hatte schon erfahren, dass ihm Assanes Besuch bei Colette sein Geld auch nicht hatte wiederbeschaffen können. Neben ihm stand ein großer, sehr hellhäutiger Schwarzer namens Sidibe und sprach ruhig und freundlich auf ihn ein. Omar schien große Hoffnungen in das Geschäft mit seinem Bruder in Italien gesetzt zu haben. Auf der Terrasse saß Yadikon im Schein einer Lampe und döste. Die kleine Frau hatte mitten im Hof einen dieser kleinen Grillöfen aufgestellt und bereitete unsere Fische zu. Neben ihr stand ein wenig sympathischer Typ, der Mustaffa hieß. Ich bildete mir ein, ihn aus dem Medinoise zu kennen, aber selbst heute, an meinem fünften Tag in Afrika, fiel es mir schwer, die Schwarzen verlässlich von einander zu unterscheiden. Assane machte mich mit allen bekannt und es entwickelte sich ein stockendes, oberflächliches Gespräch über Afrika und darüber, dass es schön war hier. Meist standen wir nur da und lächelten.
Schließlich schlüpfte Assane zur Tür hinaus und ich blieb mit meinen neuen Bekannten im Hof stehen.
„Vielleicht sollen wir nehmen ein Tisch?“, versuchte ich, die Festvorbereitungen anzukurbeln.
„Einen Tisch?“, fragte Sidibe.
„Ja, für Essen“. Es lief nicht so mit der Konversation.
„Ah! Moment!“ Sidibe verschwand und ich stand ein bisschen dumm da: Der große Massa hatte seinen Boy um einen Tisch geschickt. Nach einiger Zeit kam Sidibe mit einem schemelartigen Tischchen zurück, das nicht größer war, als eine ordentliche Schuhschachtel.
„Kleiner Tisch“, sagte ich – „Ah, gut“, meinte Sidibe.
Ich ließ es bleiben und sah der kleinen Frau beim Grillen zu. Schmerzempfindlichkeit schien es bei senegalesischen Frauen nicht zu geben. Sie drehte die Fische mit der bloßen Hand um, die Gluthitze machte ihr dabei offenbar nichts aus. Einer der Räume in dem niedrigen Gebäude, in dem ich heute Morgen erwacht war, diente als Küche, ein Topf mit Sauce dampfte auf einer elektrischen Kochplatte. Abgesehen von der Kochplatte gab es einen Hackstock, eine Kalebasse mit Wasser und ein Regal mit Töpfen und Messern. Das war die gesamte Ausstattung. Auch kein Thema für lockeres Geplauder.
Dann begann Omar zu weinen und fiel um; ein guter Start für eine Party. Sidibe ging zu ihm hinüber und die kleine Frau kicherte. Ich war froh, als Assane zurückkam, und ganz besonders froh war ich, als ich sah, was er mitgebracht hatte. In einem schwarzen Sack klimperten etliche Flaschen Flag Bier, aus einem zweiten, kleineren Säckchen fischte er zwei Tetrapackungen Wein. Don Garcia. Der Don hatte es mir weniger angetan, aber ein Bier konnte nicht schaden, um die Reste meines Katers wegzufegen.
Mit der Rückkehr des Hausherren kam auch die Gestaltung der Tischordnung in Schwung. Assane schaffte einige Sessel und Polster heran und wir setzten uns zwischen Küche und Hibiskusstrauch im Kreis, der kleine Tisch wurde in die Mitte gestellt. Omar lag über zwei Polster gestreckt und schlief; für ihn war der Tag gelaufen. Inzwischen war es ganz dunkel geworden und nur das Quietschen der Tür kündigte die Ankunft neuer Gäste an. Ein sehr hübscher Daffar und seine schwangere Frau Aminata nahmen bei uns Platz und zuletzt kam ein kleiner Kerl namens Mamadou. Damit waren wir offenbar komplett. Aminata war praktisch sofort zur
kleinen Frau gegangen und beaufsichtigte die
Fertigstellung des Abendessens. Die Männer unter- hielten sich mit gedämpften Stimmen, manchmal sagte jemand etwas auf Französisch und ich lächelte und nickte. Assane wirkte müde und sprach wenig, der Tag hatte ihm zugesetzt. Nach einer kleinen Weile brachte Aminata einen Korb mit Weißbrot, die kleine Frau trottete mit einer riesigen Platte voll Sauce und Fisch hinter ihr her, stellte sie auf den schemelartigen Tisch und verschwand. Wer auch immer sie war, der gegrillte Fisch und die Senfzwiebelsauce, die sie zubereitet hatte, dufteten herrlich. Nur Besteck gab es keines. Assane murmelte: „Bismillah!“, alle hauten rein, nur ich verbrannte mir die Finger.
Ich esse nicht gerne Fisch. Ich habe kein Problem mit dem Geschmack oder damit, dass der Kopf noch dran ist, aber ich hasse Gräten. Und wann immer ich in den dunklen Haufen Fisch vor mir griff, war das Erste, was ich spürte, ein Gestrüpp aus spitzen, bösartigen Gräten. Während die anderen unentwegt appetitliche Stücke aus dem Fisch brachen, sie ohne hinzuschauen mit den Fingern entgräteten und mit einem Tupfer Sauce verspeisten, gelang es mir nicht, ein einziges essbares Stück Fisch in die Finger zu bekommen.
Nach dem Tag in Dakar hätte ich
einen Büffel verspeisen können, aber ich musste mich mit wenigen Scheiben Brot begnügen, trank Bier und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Niemand in der schmatzenden Runde sprach und auch ich schwieg, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich wäre zu blöd zum Essen. Hätten wir alle munter drauflos geplaudert, hätte ich das Quietschen der Tür vermutlich gar nicht gehört. So aber hob ich meinen Blick und sah eine junge Frau hereinhuschen. Assane sah ebenfalls auf und sagt freundlich:
„Ah, Maymouna! Toogal!“
Und so setzte sich Maymouna neben mich, wo noch ein Hocker frei war. Sie sah schüchtern zu Boden, aber als ich sie begrüßte, erkannte ich die hübsche junge Frau von heute Morgen. Nur, dass sie jetzt lange Haare hatte. Maymouna wechselte schnippisch zwei, drei Sätze mit Assane, ich grinste dümmlich und aß weiter mein Brot. Bisweilen tauchte ich ein Stück davon in die Sauce, um wenigstens diesen Genuss nicht zu versäumen. Als ich missmutig eines meiner letzten Brotstückchen in die Sauce stupfte, ertastete ich überrascht ein absolut grätenfreies Stück Fisch, das direkt vor mir am Teller lag. Das konnte nicht sein.
In meiner
Verzweiflung hatte ich praktisch jedes Stück Fisch, das ich irgendwie erwischen konnte, auf seine Grätendichte hin abgetastet. Dabei konnte mir nicht gut ein glattes Filet direkt vor meiner Nase entgangen sein. Egal. Ich aß und es schmeckte so fremdartig und wunderbar, wie ein glotzäugiger Fisch nur schmecken konnte. Die kleine Frau hatte die Haut mit vielen Schnitten perforiert und eine scharfe Paste tief ins Fleisch gestrichen, die einem die Tränen in die Augen trieb und den Gaumen zum Jubilieren brachte. Gerade wollte ich eine Lobrede vorbringen, als ein weiteres prächtiges Stück Fisch vor mir auf den Tellerrand plumpste. Es kam von Maymouna. Sie sprach mit Daffar und schien mich nicht einmal wahrzunehmen, aber sie hatte meine Not erkannt und schnipste mir kleine Häppchen Fisch herüber. Sie brach ein Stück aus einem der Tiere, drückte die Gräten geschickt heraus und entfernte sie mit einem Wischer ihres Daumennagels. Dann ließ sie es vor mir auf den Teller kullern. Ihre Konturen zerflossen fast vollständig in der Dunkelheit und ich hätte nicht sagen können, wie sie eigentlich aussah, aber trotzdem war ich in diesem Augenblick in sie verliebt. Es war nur Fisch, aber es war auch ein Wunder und ich war glücklich.
Maymouna war längst schlafen gegangen, auch Daffar und Aminata hatten sich verabschiedet und schließlich hatten Sidibe und Mustaffa den unglücklichen Omar nach Hause gebracht, der mitten am Abend kurz das Bewusstsein wiedererlangt und Assanes Tante Colette verflucht hatte.
Nur Assane, Mamadou und ich saßen noch auf der Terrasse und genossen den lauen Abend. Mamadou war ein sehr freundlicher, traurig wirkender Mann, der besser Englisch sprach, als ich Französisch, weshalb wir uns auf Englisch als Basissprache unseres Kauderwelsch geeinigt hatten.
Für mich hing der Himmel voller Geigen, die Nacht duftete und ihre Geräusche drangen direkt in mein Herz.
Ich hatte bisher nur wenig von den Gesprächen mitbekommen, aber allmählich verdichteten sich in Mamadous sentimentalem Sermon die Hinweise darauf, dass ich ein blindes Huhn und ein Hornochse reinsten Wassers war. Er beklagte den Verlust, den der Tod des großen Senghor für das Land bedeutete, und er beklagte ebenfalls das Unglück, uns nicht auf unserer Reise begleiten zu können. Er nannte den Tod des Präsidenten und unsere Mission so
beharrlich und selbstverständlich in einem Atemzug, dass auch ich es schließlich kapierte: Assanes toter Onkel war Léopold Sédar Senghor.
„Heilige Scheiße ...!“
„Wir gehören zur mütterlichen Linie, ja.“
Am nächsten Morgen frühstückten wir wieder auf der Terrasse vor meinem Zimmer. Assane hatte Croissants gekauft, die kleine Frau hatte uns Kaffee gekocht und mir war meine Ignoranz peinlich. Ich sagte freundlich „Jërajëf“ zur kleinen Frau und sie sah mich an, als wäre ich verrückt. Ein etwa dreijähriger Bub riss an ihrem T-Shirt und sie ging den Abwasch machen. Assane lächelte: „Ihr Sohn.“
Vielleicht war sie ja doch schon zwanzig.
„Wer ist die kleine Frau eigentlich?“
„Yadikon hat sie vor zwei Jahren bei sich aufgenommen. Sie stammt aus der Gegend von Thiès, aber sie hat mit ihrem Buben hier auf der Straße gelebt.“
„Und jetzt arbeitet sie hier?“
„Meine Großmutter lässt sie hier wohnen und bezahlt ihr eine Ausbildung. Dafür hilft sie aus.“
„Wie alt ist sie denn?“
„Noch nicht einmal siebzehn. Keiner weiß, von wem sie das Kind hat.“
„Kein leichtes Leben.“
„Für sie ist es jetzt ok. Jedes Jahr kommen Tausende wie sie vom Land nach Dakar. Du kannst dir
vorstellen, dass die meisten nicht für eine nette, alte Frau arbeiten.“
„Kinderprostitution?“
Im Flugzeug der Air France hatte ich einen Spot gesehen, in dem die Urlauber, die Afrika bereisten, aufgefordert wurden, der Kinderprostitution durch bewusstes und kritisches Verhalten entgegenzutreten.
„Das ist nur ein Wort. Die meisten arbeiten nicht für Weiße, sondern für Familien hier. Der Mann im Haus sieht die Kindermagd oft als zweite Ehefrau. Nur dass er sie nicht heiraten muss.“
„Du bist sehr streng mit deinen Landsleuten.“
„Das muss ich sein. Es läuft nicht gut bei uns.“
Ich brach mein Croissant in zwei Hälften und bestrich das flaumige Innere mit einer Marmelade, die aus etwas Feigenartigem gemacht worden sein musste.
„Ich bin mir gestern ganz schön blöd vorgekommen. Du hättest mir etwas sagen können.“
„Ich dachte, Susanne hätte es dir erzählt.“
Mitten in Dakar, weit genug von zu Hause weg, um für immer verloren zu gehen, saß ich mit dem Enkel des legendären Präsidenten Senghor beim Frühstück und plötzlich wurde ganz selbstverständlich von Susanne geplaudert. Gerade so, als hockten wir im Irish Pub schräg gegenüber meiner Wohnung in
Wien Neubau, wo jeder Susanne und mich und alle unsere Probleme kannte. Das fand ich nicht gut.
„Nein, Susanne hat es vorgezogen, mich mit Bier zu überschütten.“
„Ach ja“, schmunzelte Assane. „Es tut mir leid. This is a world of come and go.“
„Woher kennst du sie überhaupt?!“ Ich war ein wenig laut geworden. Senghor und Susanne ließen meinen Film ein wenig unrund laufen.
„My Brother“, sagte Assane sanft zu dem Tischchen zwischen uns, „ich müsste dir das alles nicht erzählen, aber wir werden einige Zeit miteinander verbringen und ich möchte nicht lügen.“
Also erzählte er es mir. Susanne lebte zwei Gassen weiter, jeder kannte sie, jeder mochte sie und weil Assane zu ihrem Vertrauten geworden war, hatte sie ihn gebeten, nach unserem unvermeidlichen Gespräch ein Auge auf mich zu haben. Schließlich war ich ein impulsiver Schwachkopf, der dazu neigte, Mist zu bauen. Und Assane hatte ihr versprochen, das nötigenfalls zu verhindern. Von meinem Auto hatte er da allerdings noch nichts gewusst.
„Hast du mit ihr geschlafen?“ Ich sprach nicht zu dem Tisch, ich knurrte Assane mitten ins Gesicht.
„Eine fantastische Frage“, sagte Assane ein wenig reserviert zum Croissant auf meinem Teller, „selbstverständlich würde ich dich anlügen, wenn es anders wäre, aber ich habe nicht mit ihr geschlafen.“
Es war gerade erst neun Uhr dreißig und ich hatte mich schon wieder komplett lächerlich gemacht.
Assane war losgezogen, um in der Stadt die Verwandten der väterlichen Senghor-Linie zu treffen, allen voran Adrienne, den Präsidenten der gesamten Familie. Keiner von uns war in der Stimmung für einen gemeinsamen Ausflug gewesen und so hatte er mich im Haus seiner Großmutter zurückgelassen, wo ich unter die Dusche ging.
Ich konnte verstehen, weshalb Susanne gerade Assane so viel Vertrauen entgegenbrachte. Ich tat das schließlich auch. Aber es war zu typisch für sie, einen Babysitter für mich abzustellen, weil sie mit mir Schluss machen wollte. Beziehungstechnisch hatte ich mich als Fehlentwicklung in ihrem Leben entpuppt und Chi, das Resozialisierungsprojekt, hatte sie ordnungsgemäß an Assane übergeben. Ganz objektiv betrachtet waren das zwei richtige Entscheidungen. Unsere Liebe war erledigt gewesen, lang bevor Susanne hierher gefahren war, und ohne Assane wäre ich im günstigsten Fall in einem Spital wieder zu Bewusstsein gekommen. Susanne traf immer richtige Entscheidungen. Und ich bekam Kopfschmerzen, wenn ich nur an sie dachte.
Das Wasser rieselte kühl auf meine Schultern und meinen Kopf und ich wusch mich, so gut es ging.
Als ich mich aufrichtete, um mein Handtuch zu
nehmen, sah ich vor dem Fenster die kleine Frau stehen. Sie hatte bestimmt nicht ihr Leben lang darauf gewartet, einen nackten weißen Mann zu sehen, aber jetzt, da sich die Gelegenheit bot, musterte sie meinen weißen Körper aufmerksam und ohne Scham. Unter ihrem T-Shirt zeichneten sich deutlich ihre kleinen, spitzen Brüste ab. Wir standen einander eine Weile gegenüber, ich im Bad und sie im Gebüsch vor dem Fenster. Schließlich begann sie zu kichern und trollte sich. Ich merkte, dass ich eine Erektion bekam.
Im Film besteht die Schwierigkeit, die Anschlüsse nicht zu versauen. Lichtstimmung, optische Achsen, der ganze erzählerische Fluss, all das soll erhalten bleiben, auch wenn man einen harten Schnitt setzt, um in der Geschichte weiterzukommen. Hier und jetzt war mein Problem, dass ich meinen Schnitt setzen wollte und dennoch alles gleich blieb. Ich vermisste Susanne, war eifersüchtig auf jeden, der sie auch nur angesehen hatte, verliebte mich gleichzeitig in Frauen, die ich nicht sehen konnte, und war sexuell so aus dem Lot, dass ich vor einer hässlichen Halbwüchsigen einen Ständer aufriss. Es gab keinen Schnitt, kein Abtauchen in der Fremde. Es ging ganz einfach weiter. Das allerdings ohne Verzögerungen. Assane krachte herein, als ich mir gerade die Hosen anzog.
„Rasch“, sagte er ohne Einleitung, „ich habe Wasser gekauft, wir müssen nach Touba.“
Touba. Das stand auf all den bunt bemalten Schrott- bussen, die kreuz und quer durch Dakar rasten, und ohne mir viele Gedanken zu machen, war ich davon ausgegangen, dass das den Bestimmungsort der Busse bezeichnete. In Wahrheit war es aber eine dringend nötige Beschwörung des Glücks, das man sich allein von der Magie des Wortes erhoffte: Touba, die heilige Stadt der Muriden.
Ich steuerte den Wagen über löchrige Pisten und trockene Ebenen immer weiter ins Landesinnere. Wie verbrannte Wurzelstöcke ragten die Kronen der schwarzen Baobabs über den flirrenden Horizont und Assane brachte eine Zusammenfassung der muridischen Geschichte.
Cheikh Ahmadou Bamba, der allerorts verehrte Gründer der Bruderschaft, hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen unbeugsamen Islam gepredigt und während sich andere Marabouts mit den Besatzern arrangierten, den Islam schwach und stumpf werden ließen und von ihrer kooperativen Haltung profitierten, trat Mame Bamba offen gegen die Franzosen auf; was ihm zahlreiche Anschläge auf sein Leben sowie mehrere Verbannungen einbrachte. Einmal versuchte man es sogar mit
einer Kombination aus beidem und ließ ihn auf offener See über Bord des Schiffes werfen, das ihn ins Exil bringen sollte. Aber der Glaube Mame Bambas war so stark, dass er ihn alle Anschläge der Franzosen überleben ließ. Aus der misslichen Lage im Ozean hatte sich Bamba angeblich befreit, indem er auf den Wellen seinen Teppich ausgebreitet und seine Rak'at verrichtet hatte. In jedem guten Taxi konnte man neben Portraits von Madonna und Mike Tyson auch eine bildliche Darstellung dieses Vorfalls bewundern. Jedenfalls war Bamba nicht umzubringen und die Kraft seines Glaubens bald über alle Grenzen hinweg bekannt. Dafür war nicht zuletzt Bambas erster Jünger, Cheikh Ibra Fall, verantwortlich, den man sich offenbar nicht eifrig und verrückt genug vorstellen konnte. Immerhin wurde er von seinem Meister von der Pflicht befreit, den Ramadhan zu halten, da er der Sache Bambas vermutlich ernsthaft geschadet hätte, wäre sein Fanatismus auch noch durch Hunger verstärkt worden. Aber immerhin lebten in der Nachfolge dieses Ibra Fall bis heute Bettelmönche, die ich in Dakar als Baye Fall kennengelernt hatte. Die meisten dieser Baye Fall waren allerdings einfach faul, kifften gern und ließen sich pittoreske Rastas
wachsen, was ihnen beim Anschnorren von Touristen klare Vorteile brachte. Mit der Tradition, nach der ein Baye Fall nichts besitzt, weil er sein ganzes Sein der Gemeinschaft opfert, hatten diese Jungs nicht viel am Hut. In Touba, meinte Assane, war das anders. Touba war die spirituelle Hauptstadt des Senegal. Die Gläubigen, die dort lebten, konnte man durchwegs als besessen beschreiben und die Marabouts, für die dort gebettelt wurde, stellten realpolitisch eine mächtige Lobby dar. Wie so oft war die Sache auch hier in den letzten Jahrzehnten gekippt und die Mächtigen der muridischen Gemeinschaft, die ursprünglich aus dem Widerstand gegen das Unrecht der Kolonialherren entstanden war, besaßen heute riesige Ländereien, auf denen Kleinbauern schufteten, und konnten für ihre Gläubigen gegen gutes Bares Wunder wie zum Beispiel Straffreiheit bei Eigentumsdelikten wirken. Das war der weniger mystische Teil. Unser Besuch hingegen galt einem der wahrhaft Gläubigen, den wir finden und rasch nach Dakar bringen mussten, weil Colette über Nacht sehr krank geworden war.
„Du verstehst schon“, schloss Assane seine Darstellung ab.
Wir rumpelten über eine rote Sandpiste, die der zahlreichen Schlaglöcher wegen zumeist nur am Bankett befahren werden konnte, und ich verstand natürlich nicht.
„Wir sollten sie ins Krankenhaus bringen, wenn es ihr so schlecht geht“, sagte ich. „Sie ist magersüchtig oder so.“
„Und sie ist nicht versichert und sie hat mächtig abergläubische Verwandte.“
Ich verstand noch immer nicht.
„Omar hat Colette verflucht. Deshalb hat die Familie beschlossen, ihren Bruder Lamine aus Touba zu holen, damit er den Fluch bekämpft.“
Assane schien das peinlich zu sein, also ging ich davon aus, dass er sich nicht über mich lustig machte.
„Was?!“
„Voodoo. Wir haben viele schöne und erhaltenswerte Traditionen im Senegal, aber das sind natürlich auch diejenigen, die zügig in Vergessenheit geraten. Der Aberglaube hingegen hält sich prächtig.“
„Und deswegen fahren wir jetzt 200 Kilometer hin und wieder zurück? Wegen Voodoo?“
Ich war sauer. Alles hier lief beschissen, ich wurde verarscht und bevormundet und als Chauffeur
durch die Gegend gehetzt und jetzt hatte ich genug.
„Man sollte Colette zu einem Arzt bringen. Dafür fahre ich gerne doppelt so weit in jede Richtung. Aber um jetzt einen Medizinmann zu holen, der sie mit Hühnerblut vollkleckert ...“
„Du verstehst das nicht und du solltest nicht respektlos von Dingen sprechen, die du nicht verstehst!“
Assane hatte eine Eigenschaft, die ich bisher nur bei Filmproduzenten beobachtet hatte. Ähnlich einer dieser Echsen, die ihre Halskrausen aufstellen, um bedrohlich zu wirken, konnten sie eine Art Aura um sich aufplustern, die sie streng und autoritär erscheinen ließ. Ich kannte den Trick, aber er verfehlte seine Wirkung trotzdem nicht.
„Entschuldige. Ich wollte nicht eure Tradition verspotten. Es kommt mir nur sehr unvernünftig vor.“
„Akzeptiert“, sagte Assane. Die Aura schwoll wieder ab. „Es ist auch sehr unvernünftig. Und es kostet viel. Aber die Familie hat so entschieden.“
„Meinst du, dass es helfen wird?“
„Kann schon sein. Im Grunde ist es wohl eher ein psychisches Problem.“
Langsam verrauchte mein Ärger und ich versuchte,
die Sache interessant zu finden: Die spindeldürre Colette verjuxt Omars Geld, bekommt dafür von Senghors Enkel saftig den Kopf gewaschen und kriegt die Krise. Und schon holpere ich durch die Savanne und hole einen Zauberer aus der heiligen Stadt. Abgesehen davon, dass das langwierig, mühsam und krachheiß war, war es auch eine gute Geschichte.
„Tut mir leid“, sagte ich. „Auch wegen heute Morgen.“
„Amul solo.“
An die Hitze in Dakar hatte ich mich inzwischen gewöhnt. Abgesehen vom frühen Nachmittag war es meist erträglich, der Wind wehte häufig vom Meer herein und gerade in der Medina gab es viele Bäume, die reichlich Schatten spendeten. Die Hitze der heiligen Stadt hingegen war etwas für Selbstgeißler.
Assane und ich hatten den Wagen im Schatten einer Mauer abgestellt, über uns hing ein verdorrter Flughund an einer der Stromleitungen.
Die ganze heilige Stadt wirkte sehr prosaisch und für einen Ort, den zu bereisen einem Muslim die Pilgerfahrt nach Mekka ersparen konnte, war es erstaunlich ruhig hier. Alle Gebäude waren nach außen hin fensterlos und wirkten wie gepanzert gegen die Prügel der Hitze. Dazwischen dehnten sich endlose, sandige, absolut schattenfreie Plätze, die zu überqueren einem Spaziergang durch das Fegefeuer gleichkam. Aus Respekt vor den Gläubigen trug ich lange Hosen und einen langärmligen Pullover, den Assane mir geliehen hatte. Mir war wirklich heiß.
„An den Feiertagen ist hier alles voller Menschen. Hunderttausende kommen her, um in der größten Moschee Schwarzafrikas zu beten und Mame Bambas Grabschrein zu besuchen.“
Die Sonne brannte auf den hellen Sand und ich konnte kaum die Augen öffnen. Mir war jeder Vorwand recht, um ins Innere eines Hauses zu kommen.
„Können wir uns das ansehen?“
„Den Grabschrein?“
„Ja.“
„Wir werden daran vorbei kommen. Er ist sehr eindrucksvoll.“
Allah war mir gnädig. Man gedachte seines großen Sohnes Mame Bamba, Gründer der muridischen Bruderschaft, Khadimu r-Rasul, Diener des Propheten und Stern des Glaubens, im Inneren eines geräumigen und sogar verhältnismäßig kühlen Hauses. Es lag am Weg zum Friedhof, wo Assane Colettes Bruder Lamine vermutete. Das Grab selbst war ein riesiger Block aus dunklem Stein und erinnerte mich entfernt an einen Teil des Raumschiffs aus „2001 – A Space Odyssey“. Vielleicht hatte ich aber auch einen Sonnenstich. Jedenfalls war es hier in bester Gesellschaft. Der Weg durch das Gebäude zum offenen Teil des Friedhofs schlängelte sich durch wahre Ratsversammlungen von Gräbern höchst lobenswerter Vertreter des schwarzen Islam, deren Gebeine man zur höheren Ehre hierher gebracht hatte. Ich konnte mir ihre Namen und Geschichten nicht merken, vielleicht ging es Japanern in der Kapuzinergruft so ähnlich.
Der Friedhof im Freien war etwas anderes. Hier lagen jene, die sich von der Nachbarschaft der berühmten Gebeine einiges für die Zeit im Jenseits versprachen und in der Nähe des heiligen Ortes bestattet hatten werden wollen. Von der Nützlichkeit einer Investition in ein Grab in Touba waren offenbar viele überzeugt, der Friedhof hingegen war ziemlich klein. Das hatte dazu geführt, dass in jedem ebenen Fleckchen Erde gleich mehrere schlichte Metallschildchen steckten, die Aufschluss darüber gaben, wer hier auf wem ruhte.
Als Wiener war ich in der Gewissheit aufgewachsen, dass es auch für mich noch ein Plätzchen am Zentralfriedhof geben würde, selbst wenn sich ab sofort jeder ein Monument in der Größe der hölzelschen Absurdität aufstellen ließe. Schließlich war „der Zentral“ für eine Metropole von vier Millionen konzipiert worden, die Wien nie geworden ist. Dieser Überfluss an Verwesungsraum und der allgemeine Totenkult in meiner Heimat hatten in mir die stille Überzeugung wachsen lassen, dass einem wenigstens im Tod ein bisschen Platz und ein Wegerl rundherum zustanden. Hier allerdings konnte man praktisch keinen Schritt setzen, ohne auf zumindest zwei Gräber gleichzeitig zu treten.
Aber das war offenbar kein Problem, denn der Tod wurde in Touba als Teil des Lebens zelebriert. Da war es auch nicht weiter schlimm, wenn man beim Besuch eines Grabes auf drei anderen saß. Die zahlreichen Familien, die hier einem ihrer Lieben die Ehre erwiesen, waren nicht direkt laut, hielten aber auch nicht diese ängstliche Stille, die ich üblicherweise mit Grabbesuchern verband. Am besten gefielen mir zwei etwa zehnjährige Nachwuchsbettelmönche, die in ihrer Tracht aus bunten Flicken zwischen den Gräbern Fangen spielten und unvermittelt eine spendenorientierte Ernsthaftigkeit an den Tag legten, als sie mich und Assane über die Gräber balancieren sahen. Tatsächlich reckten sie uns ihre Bettelschalen entgegen und Assane ließ bereitwillig einige Münzen klingeln. In Dakar hielt er sich mit dem Almosen deutlich zurück, hier wie da folgte ich seinem Beispiel.
„Ah, Lamine“, sagte Assane und wies mit einem leisen Ruck seines Kopfes in Richtung eines riesigen, hageren Mannes, der auf einer kleinen Erhebung am Friedhofsgelände reglos in der prallen Sonne stand. Er trug einen gewaltigen, dicken Boubou, der aus einer unglaublichen Menge winziger Stoffflicken bestand, um seinen Kopf hatte er ein Tuch gewunden, das steif vor Dreck wie ein kleiner Turm in die Höhe stand. Über den Rand des Tuches ragten einzelne, dicke Haarwürstel. Er wäre ein Foto wert gewesen.
„Sëriñ Lamine Fall“, sprach Assane den Riesen höflich an, der darauf folgende Begrüßungssermon entwickelte sich etwas einseitig, da Lamines einziger Beitrag dazu ein regelmäßig und barsch vorgebrachtes „H!“ war. Assane ließ sich davon nicht beirren und trug in aller Ruhe unser Anliegen vor, während ich mich verstohlen nach Schatten umsah. Auch ohne Lamines fester Jacke war ich einem Kollaps nahe. Lamine selbst schien die Hitze auch nicht bekommen zu haben. Er glotzte einfach starr über Assanes Kopf hinweg und macht gelegentlich „H!“
Assane deutete das ganz in meinem Sinne als Zusage, mit uns kommen zu wollen, steckte Lamine ein beachtlich dickes Bündel Geldscheine zu, nahm ihn an der Hand und los ging es.
Aus europäischer Sicht war Lamine verhaltensgestört. Er war absolut unzugänglich und ich war mir nicht einmal sicher, ob er uns wahrnehmen konnte. Er ging völlig apathisch neben Assane her, Arroganz und Irrsinn beherrschten abwechselnd seine Gesichtszüge. Alle paar Schritte blieb er stehen, um sein richtungsloses „H!“ hervorzustoßen. Dabei war es ganz egal, ob wir gerade neben dem Grab des heiligen Mame Bamba oder in der knallenden Sonne vor der großen Moschee standen. Er machte einfach „H!“.
Als wir ihn schließlich beim Wagen hatten, bugsierte ich ihn auf die Hinterbank, drehte die Klimaanlage auf und hoffte, er würde sich nicht verkühlen. Der Wagen rollte die ersten Meter staubiger Piste auf, als Lamine zu sprechen begann. Abrupt und mit klarer, feuriger Rednerstimme legte er los. Ich wollte anhalten, aber Assane bedeutete mir weiterzufahren. Er drehte sich zu Lamine um und ich beobachtete die Szene so gut es ging über den Rückspiegel.
Es fand keinerlei Interaktion
zwischen dem Redner und seinem Publikum statt, scheinbar hatte Lamine jetzt eben einen Sprechanfall. Assane ließ ihn nicht aus den Augen und Lamine kam immer mehr in Fahrt. Er schrie und gestikulierte, schroffe Wortsalven knatterten mir um die Ohren, die Hand des Predigers schlug nachdrücklich gegen das Wagenfenster. Dann war Ruhe. Lamine saß mit weit aufgerissenen Augen und wütendem Blick hinter uns, er hatte sich in einen grimmigen Götzen verwandelt und rührte sich absolut nicht. Keine einfache Übung, wenn man den Zustand der Straße berücksichtigte. Wir schlingerten durch tiefen Sand und harte Schlaglöcher und wurden gründlich durchgeschüttelt. Nur Lamine saß stocksteif und kerzengerade auf der Hinterbank. Er musste sich auf krampffördernde Art mit den Beinen verspreizt haben. Nach einer Weile fragte ich Assane, was Lamine gesagt hatte und Assane meinte: „Nichts. Er spricht nicht Wolof. Keiner weiß, was er redet, er hat eine eigene Sprache erfunden.“
Arme Colette.
Als wir Dakar knapp vor Einbruch der Dunkelheit erreichten, setzte ich Lamine und Assane in der Nähe von Colettes Haus ab. Als überzeugter Ungläubiger hätte ich alles Weitere wohl nur gestört. Mit einem Anflug von Kopfschmerzen pflügte ich zurück zur Corniche, von da aus den Weg zu meinem Zimmer zu finden, war leicht.
Auf der Terrasse traf ich Mamadou, der einfach da saß und auf nichts Bestimmtes zu warten schien.
„Ah Mamadou“, sagte ich, „Na nga def?“
„Maa ngi fi rekk, na nga def?“
„Maa ngi fi. Danke schön.“
Mamadou lächelte. „Du bist ein Peulh blanc. Fast schon ein echter Senegalese.“
Ich lachte und erzählte ihm die ganze Touba- Geschichte. Vom Grab Mame Bambas, von Lamine und von Colette, die kraft seiner Zauberkünste gerettet werden sollte. Mamadou tat sehr beeindruckt, weil ich bereits in Touba gewesen war, der Voodoo-Aspekt schien aber auch ihm ein bisschen peinlich zu sein. Trotzdem fragte ich ihn nach der ungewöhnlichen Dreifaltigkeit von Islam, Voodoo und Wunderheilern in seinem Land.
„Der schwarze Islam ist ein sehr spezieller Islam“, meinte Mamadou bedrückt. "Der arabische Islam
sieht den schwarzen Islam nicht gerne, deshalb machen wir den Hadsch auch nach Touba.“
Ich hatte das schon öfter erlebt. Wenn man hier nach etwas fragte, das den Leuten unangenehm war, erhielt man als Antwort eine Information, nach der man nicht gefragt hatte. Trotzdem wollte ich gerne wissen, wie Assane oder auch Mamadou, die die Werte ihrer Religion ernst zu nehmen schienen, über Hexerei dachten.
„Das, was du Voodoo nennst, ist nicht Teil des Islam“, antwortete Mamadou seufzend. „Wir praktizieren die Religion sehr tolerant. Islam ist die größte Religion, aber fünf Prozent sind Christen. Es gibt viele Mischfamilien, wie Assanes Familie zum Beispiel, und Senghor selbst war auch Christ. Es gibt nie Probleme“
Schon wieder. „Aber das Voodoo kommt ja wohl nicht von den Christen ...“
„Nein.“ Mamadou klang noch trauriger als sonst. „Nach den Prozenten gibt es kaum mehr Animisten im Senegal. Aber jeder Senegalese ist ein bisschen Animist. Wenn man das zusammenzählt, sind die Animisten die zweitgrößte Religion im Land.“
„Findest du das schlimm?“
„Nein, der Animismus ist nicht schlimm. Aber er ist
zum reinen Aberglauben geworden. Und der kann sehr stark sein. Er macht die Menschen verrückt und einsam.“
Offenbar hatte ich ein Thema angesprochen, das Mamadou sehr zu schaffen machte.
„Weißt du, ich kenne mich nicht aus mit Glaubens- fragen, aber es wundert mich, dass Assane diesen Muriden Bewunderung entgegenbringt, wenn sie den Menschen mit ihren Praktiken schaden.“
„Assane wünscht sich einen starken Islam. Einen toleranten Islam, der den Menschen wieder eine Identität gibt. Er bewundert die Muriden nicht. Nicht wie sie heute sind. Heute sind sie eine Sekte.“
Die Sache wurde langsam kompliziert. „Die meisten Menschen sind nicht wie Assane“, fuhr Mamadou fort. „Sie denken nicht über den Glauben nach, sie denken nicht über ihre Identität nach. Sie wissen nur noch wenig über die Tradition, aus der sie kommen. Sie wollen Europäer sein oder sie benutzen unsere Kultur als Folklore, als Trallala für die Touristen. Aber wenn das Unglück sie trifft, dann sind sie auch keine Europäer mehr. Dann rennen sie zum Marabout und geben ihm Geld – ‚Bete für mich, bete für mich!’ Aber sie denken nicht nach. Das ist das Schlechteste am Voodoo.“
Mamadou saß auf der Terrasse und sah aus wie ein Teil einer malerischen Motivtapete aus den 70er Jahren. Sein freundliches, schwarzes Gesicht vor der kräftig grünen Wand umrahmt von exotischen Pflanzen – „So ist das Leben in Afrika“, hätte man sagen können. Aber so war es nicht. Mamadou schien sich zwischen seinen Leuten fast genauso fremd zu fühlen wie ich. Und um dieses Gefühl zu vergessen, begann er zu erzählen. Er erzählte mir mit zunehmender Begeisterung von Mame Bamba, den Magals, den großen Versammlungen in Touba, wo es mehr Leute gab wie Assane, die versuchten, dem Glauben seine Lebendigkeit zurückzugeben, und davon, wie harmonisch die Religionen im Senegal nebeneinander bestanden.
Ich hatte ihn mit meinen Fragen in eine Krise gequatscht und er quatschte sich wieder heraus. In Österreich hätten wir vielleicht die Play Station angestöpselt und eine Pizza bestellt, um uns zu vergewissern, dass die elementaren Dinge im Lot waren. Hier brachte Mamadou seine Welt mit einem bewusst kantenfreien Monolog über den Wert gemeinsamer Werte in Ordnung. Ihm schien das schiere Sprechen zu helfen und mir war mit einer wertvollen Information gedient:
Yadikon war Christin und zurzeit mit Maymouna und der kleinen Frau in der Kirche, wo sie mit dem Chor für das morgige Weihnachtsfest probten. Der Gedanke an Weihnachten war einfach lächerlich mitten in Dakar, aber zu wissen, wo Maymouna war, bedeutet mir etwas, und ich überlegte, wie ich es anstellen konnte, auch den heutigen Abend in ihrer Gesellschaft zu verbringen. Also bot ich Assane, als er vom Exorzismus heimkam, an, die Familie und natürlich Mamadou zu einem Abendessen einzuladen. Assane sah müde aus, aber die Geste freute ihn. Wir berieten, was passend wäre und er schlug das La Soumbe in der Nähe von Soumbedioune vor. Dort gab es Live-Musik, eine Tanzfläche und das Essen kam aus einer typisch senegalesischen Dibiterie. Für mich klang das ausgezeichnet.
„Ok“, meinte Assane. „Ñu ngi dem!“
„Wohin?“
„Die drei aus der Kirche holen natürlich!“
„Langsam, langsam, ich dachte wir warten einfach, bis sie zurück sind, gehen dann gemütlich dort rüber, essen in aller Ruhe ...“ Ein kleines, ungezwungenes Beisammensein eben.
„Ah“, machte Assane, „so eine Einladung ist eine große Sache im Senegal. Los jetzt.“
Wir nahmen ein Taxi und fuhren zu einer Kirche in einem Stadtteil von Dakar, den ich noch nie gesehen hatte.
Assane hoffte, Yadikon im Hauptgebäude zu finden, einer großen Halle, die von Neonlichtern ausgeleuchtet wurde wie ein Operationssaal. Die Ausstattung erinnerte an amerikanische Televangelisten-Shows, es war heiß, die Reihen locker besetzt, Yadikon und Maymouna waren nirgends zu sehen. Assane trat höflich an eine ältere Dame heran, um nach ihnen zu fragen. Die Frau war in ein knallrotes Kleid mit einer leuchtend grünen Schärpe gehüllt, am Kopf trug sie einen ausladenden Aufbau aus bunten, gewickelten Stoffbahnen. Damit war sie bei Weitem nicht die schrillste Erscheinung hier. Abgesehen von der Tracht allerdings ähneln moderne Christen einander überall. Sie sehen alle aus wie Leute, die es wirklich, wirklich gut meinen. Und auch Assanes Informantin meinte es wirklich gut. Wie selbstver- ständlich kannte und begrüßte sie ihn und beantwortete ausführlich und in zunehmender Lautstärke seine Frage. Die Umsitzenden ließen sich gerne aus ihrer Andacht reißen und nahmen regen Anteil an der Lösung unseres Problems.
In allen vierzig Sitzreihen stießen einander die Gläubigen an, drehten sich nach uns um, tuschelten, kicherten und deuteten auf mich. Aus der schwächlichen Anlage säuselten französische Weihnachtslieder.
„Sie sind bei der Chorprobe“, sagte Assane, als wir die Kirche endlich wieder verlassen hatten.
„Na ja, da kann man dann wohl nichts machen. Vielleicht gehen wir ein anderes Mal.“
„Aber nein, das macht gar nichts! Es ist hier ganz in der Nähe, sie werden sich riesig freuen.“
Wir stolperten über den stockdunklen Kirchenhof, in einer Ecke sah ich eine Gruppe Jugendlicher im schwachen Schein ihrer Zigaretten zusammenstehen, in der Ferne absolvierten wackelige Stimmen mäandernd Übungstonleitern. Meine Mission wuchs mir allmählich über den Kopf.
Schließlich hielt Assane vor einem etwas windschiefen Holzschuppen an, der genauso aussah wie all die kleinen Dorfschulen im Fernsehen, die gezeigt wurden, um das karitative Wirken irgendeiner wohltätigen Organisation zu illustrieren, die im Dschungel von Sonst-wo ein Bildungsprojekt finanziert hatte. Drinnen saßen allerdings keine kleinen Kinder mit großen Augen, sondern lauter hübsche Mädchen, die augenblicklich zu kichern begannen, als ich eintrat. In der ersten Reihe schlug Maymouna die Augen nieder, etwas weiter hinten erkannte ich im Kreise einiger älterer Frauen Yadikon; offenbar waren doch nicht nur hübsche junge Mädchen hier. Yadikon winkte mir zu, ich winkte hölzern zurück. Neben ihr saß die kleine Frau, einige Plätze weiter gab es eine eigene Bank für die wenigen Burschen, die dem Chor angehörten. Ganz vorne an einer kleinen Orgel saß der Chorleiter. Er war kugelrund, trug riesige
Brillen und sprach sehr freundlich mit Assane.
„Julien lädt uns ein, ein bisschen zuzuhören, bevor wir gehen“, übersetzte Assane für mich. Ich hatte keine Wahl.
„Ok, gerne.“
Ich bekam einen Platz auf der Männerbank zugewiesen, wo ich neben einem Jungen sitzen musste, der so fromm aussah, dass er es vielleicht bis zum Bischof von Dakar bringen konnte. Einige Reihen vor mir sah ich Maymounas Hinterkopf. Sie war vollauf damit beschäftigt, keine Erklärungen an ihre erwartungsvollen Nachbarinnen abzugeben. Es war ein absurdes Theaterstück bei großer Hitze und Yadikon brachte mich ins Spiel: Lächelnd neigte sie sich vor und ließ mir ein Notenblatt reichen. Julien war ganz angetan und sah mich als willkommene Verstärkung in den tieferen Lagen. Er forderte die Männerbank auf, sich zu erheben und zur Erbauung der jungen Frauen zu singen. Neben mir schrie der hoffnungsvolle Bischof „À l'ombre du matin de la Vierge Marie ...“ als gäbe es keine Harmonien und der Rest von uns ließ ihn machen. Leider kränkten wir damit den kugeligen Chorleiter Julien und er ließ uns einzeln unser Können unter Beweis stellen.
Ich stand in einem afrikanischen Klassenzimmer, unter dessen Wellblechdach sich Spinnweben in der Abendluft bogen, und sang im Kreis eines kollektiven Lächelns voll christlicher Nächstenliebe Maymounas Hinterkopf an. Der besorgte Rest meines vernünftigen Bewusstseins veranlasste die Ausschüttung körpereigenen Valiums, das mich durch den Rest dieser Chorprobe tauchen ließ wie in Trance. Yadikon lachte viel, Assane musste auch singen, einmal drehte sich Maymouna nach mir um und ohne zu wissen, wer damit angefangen hatte, lächelten wir einander an.
So richtig zu mir kam ich erst wieder, als wir die Kirche längst verlassen hatten und in einem der öffentlichen Schrottbusse saßen, wo sich aus purem Platzmangel Maymounas Schenkel gegen meinen drückte. Hätte sich nicht auf der anderen Seite Yadikons spitzer Ellbogen in meine Niere gebohrt, ich wäre glatt bis Touba gefahren oder noch weiter.
Zu Hause gab es eine kleine Szene, weil Yadikon der kleinen Frau nicht erlauben wollte mitzukommen. Ansonsten hatte mein Vorschlag, gemeinsam Essen zu gehen, gerade bei Yadikon große Begeisterung ausgelöst. Sie hatte sich augenblicklich bei mir eingehängt wie eine Debütantin beim Elmayer- Kränzchen, „Sehr galant, mein Herr“ gesagt und sich halb schiefgelacht. Offenbar galt Essen gehen á la européenne in der wohlhabenderen, aber traditionsbewussten Schicht, der Assanes Familie angehörte, als schnöselig. Mit einem Toubab als Entschuldigung konnte man sich den Spaß jedoch gerne erlauben.
Als unsere verbliebenen Begleiterinnen verschwunden waren, um sich ausgehfertig zu machen, blieb ich mit Assane im Hof zurück und fühlte mich ertappt. Kein Mensch tut sich so etwas wie diese Chorgesangsnummer an, es sei denn, die Liebe hatte ihn verrückt gemacht.
Rund um uns legten sich die Zikaden mächtig ins Zeug, die Nacht war warm und ihre Gerüche hatten mich schon einmal im Haar einer fremden Frau Zuflucht suchen lassen. Ich vermied Assanes Blicke, unsere Sicht auf die augenblickliche Lage war vermutlich noch unharmonischer, als unser Gesang
es gewesen war: Assane war Susannes Vertrauter, er hatte vor mir gewusst, dass sie mich verlassen wollte, kannte mich aus ihren Erzählungen wahrscheinlich als rüpelhaften Schürzenjäger und sah mich jetzt meine hässlichen Klauen wetzen, um eine Schutzbefohlene seiner Großmutter zu reißen. Ich hingegen fühlte mich auf wunderbare Weise schutzlos. Ich war meiner Welt entglitten, allein in der Fremde; ohne Ahnung, ohne Verständnis, blind und unfähig, Bedrohung und Alltag zu unterscheiden. Aber Maymouna hatte mich in einen Schoß gebettet, in dem ich willkommen war; mit einer Geste von intimer Freundlichkeit, die in der westlichen Welt unbekannt war, zu der dort niemand imstande gewesen wäre. Es war nicht das gierige Verlangen, das mich ihre Nähe suchen ließ. Ich war neugierig wie der erste junge Mann, der sich je einer jungen Frau genähert hat. So sah ich das. Dummerweise ließ die absurde Farce, zu der sich meine Einladung entwickelt hatte, meine Absichten linkisch und dreist erscheinen. Ich bewegte mich sehr ungelenk in dieser Welt, in deren Mitte ich hier gestolpert war.
Assane stand schweigend neben mir, aus dem Haus drangen die Geräusche fröhlicher Betriebsamkeit. Was immer ich da in Gang gebracht hatte, es war keine Kleinigkeit. Schließlich erlöste mich Mamadou, der begleitet vom Quietschen der Tür auf den Hof schlich. Es drang nur wenig Licht von der Hauslaterne über der Terrasse zu uns herüber, aber ohne Zweifel hatte er sich fein gemacht: Seine Schuhe schimmerten und er trug einen leichten, eleganten Anzug.
„Wow, Mamadou! Très schick!“
„Danke, Chi. Man muss nett aussehen, wenn man ausgeht.“
„Sollen wir auch den Smoking anlegen?“, fragte ich Assane.
„Wie es dir passend erscheint.“
Das war mir eine große Hilfe. Assane wirkte nicht sauer – damit hätte ich umgehen können –, er zeigte lediglich keine deutbare Gemütsregung. Das verunsicherte mich weit mehr, als eine scharfe Zurechtweisung oder ein Wutausbruch. Ich entzog mich der drückenden Stimmung im Hof und ging mich umziehen. Leider hatte ich nichts in meinem Gepäck, das mit der luftigen Lässigkeit hätte mithalten können, die den kleinen Mamadou
schmückte. Also entschied ich mich für schwarze lange Hosen und eine enge schwarze Zippjacke. Eine Kombination, die wenigstens im Dunklen halbwegs feierlich aussah. Assane blieb, wie er war. Ein Bruder in Italien versorgte ihn mit westlichen Outfits, die ihm stets einen gepflegten, urbanen Look gaben.
Als ich auf den Hof zurückkehrte, beschämte mich Mamadou, indem er meine Komplimente vielfach zurückgab und die Ärmlichkeit meines Aufzugs damit noch unterstrich. Als Weißer in Touristenkluft konnte man in der Gesellschaft aufgedonnerter Senegalesen generell nur abstinken – Kleidung spielte hier unübersehbar eine wichtige Rolle. Für eine Stadt im Sahel war Dakar bestimmt nicht arm und auch wenn es in den Straßen viel Elend gab, viel prägender für das Bild der Stadt war die enorme Anzahl prachtvoll gekleideter Menschen. Das Erstaunlichste war dabei die makellose Sauberkeit all dieser Gewänder. Ob westlich oder traditionell, jedes Kleidungsstück schien resistent zu sein gegen die allgegenwärtige Flut von Schmutz und Sand und selbst bodenlange Wickelkleider waren bis zum Saum von fleckenloser Pracht. Ich hingegen brauchte nur einmal um den Block zu gehen und sah aus wie ein verwahrloster Herumtreiber.
Mir blieb allerdings nicht viel Zeit, meinen müßigen Betrachtungen über die unterschiedlichen Begabungen, schmutzig zu werden, nachzuhängen, denn die mittlere Tür der Terrasse schwang auf und Maymouna trat Seite an Seite mit Yadikon ins Licht der Hauslaterne.
Yadikon war ein Schauspiel. Sie trug einen Boubou aus dunkelblauem Stoff mit fließenden, grün schillernden Ornamenten, deren Ränder hellblau abgesetzt waren. Um ihre Schultern lag ein hüftlanges, durchscheinendes Tuch aus blauem, weichem Tüll, ihren Kopf zierte ein gewundener Turban, dessen kunstvoller Knoten sie 20 Zentimeter größer machte. In Europas Modesalons wäre man auf der Suche nach derartigen Textilien vermutlich an den Fachhandel für Dekorstoffe verwiesen worden, aber hier in Dakar ergaben sie eine königliche Robe. Yadikons Boubou bestand aus vielen Lagen Stoff und diese übertriebene Fülle verlieh der dürren alten Frau Volumen und Vitalität und unterstrich ihre große Würde.
Daneben stand Maymouna. Sie trug blaue Jeans und ein weißes Leibchen, ihr Haar hatte sie zurückgebunden. Sie hätte nicht schöner sein können.
Mit den Frauen war auch die gute Laune zurückgekehrt. Assane spielte abwechselnd Gentleman und Macho, Mamadou war als Zeremonienmeister sehr um den geglückten Ablauf aller Einzelheiten unseres Abends bemüht und ich wurde voll und ganz von Königin Yadikon in Beschlag genommen. Sie stolzierte die Corniche entlang den Lichtern von Soumbedioune entgegen, wies mir einen Platz an ihrer Seite zu und fischte nach Komplimenten wie eine alte Josefstadt-Diva. Ich führte sie aus und hatte sie vor allen Gefahren zu behüten, Lacken etwa, in die sie hätte treten können oder schlechter Laune, die ich ihr mit charmantem Unsinn vom Leib hielt. Es war verrückt, aber es hatte seinen Sinn. Ich reagierte mein affiges Bedürfnis, zuvorkommend, charmant und witzig zu sein, an Yadikon ab, was ihr und Maymouna die Zeit verschaffte, mich dabei unter die Lupe zu nehmen. Es war sehr altmodisch und sehr beglückend. Ob es die fremdartigen Umstände waren, die nach vier Jahren Beziehung meine Hormone klingeln ließen, oder ob ich mich tatsächlich in die schlichte junge Frau verliebt hatte, die dem Gebalze an ihrer Seite keinerlei Aufmerksamkeit zu schenken schien, konnte ich nicht sagen. Es war mir egal.
Das La Soumbe war ein wunderbares Lokal. Anders als die Restaurants in Centre Ville wurde es hauptsächlich von Schwarzen besucht und im Gegensatz zum Alizé musste man hier scheinbar auch nicht Postminister oder Supermodel sein, um wahrgenommen zu werden.
Die Stimmung war ein wenig halbseiden und sehr entspannt, es gab eine mächtige Terrasse, die wie ein Pfahlbau ins Meer ragte, eine Bar und eine Tanzfläche vor einer winzigen Bühne. Die Tische waren niedrig und nach westlichen Begriffen nicht ideal für den Verzehr von Speisen geeignet, die meisten Besucher waren auch nicht wegen des Essens da. Die Leute lümmelten in losen Gruppen in ausladenden Sofas neben der Tanzfläche oder an der Bar, warfen einander über die Tische hinweg spöttische Wortfetzen zu und tranken beachtliche Mengen. Die meisten Männer sahen aus wie Soul- Prediger oder schwarze Sektenführer mit ihren Frauen und Jüngern. Auf der Bühne saßen zwei uralte Schwarze in verschlissenen Anzügen und spielten auf Gitarre und Keyboard verquere Jazzstandards. Wir bestellten Dibiterie für fünf Personen und Assane erklärte mir, wer hier wer war:
Die Gruppen, die ich ausgemacht hatte,
scharten sich um jeweils einen mehr oder weniger bekannten Musiker, namentlich waren der Bruder von Thion Seck – ein ältlich wirkender, steifhalsiger Schwarzer mit Stecktuch –, der unendlich coole Bassist und Oberrasta der Band von Youssou N'Dour und der Besitzer des Lokals selbst anwesend, der als Bruder von Samuel L. Jackson hätte durchgehen können und angeblich schon mit James Brown gespielt hatte.
Normale Menschen gingen in Dakar offenbar wirklich nicht essen. Um sich diese Art von Luxus leisten zu können, musste man zumindest Politiker oder berühmter Musiker sein.
Ich versuchte, mir ein vergleichbares Szenelokal in Wien oder von mir aus München vorzustellen; ich hätte wohl augenblicklich die Flucht ergriffen. Hier hingegen ließ es sich aushalten. Nur Maymouna schien sich ein wenig unwohl zu fühlen. Ich fand sie in ihrer äußerst schlichten Aufmachung hinreißend schön, aber in Dakar zählte man als Frau scheinbar nur, wenn man sich aufdonnerte wie Dolly Parton auf Acid.
Die Frauen in den Musikeranbetungsrunden trugen Haarskulpturen, deren Herstellung Stunden in Anspruch genommen haben musste, Netzstrümpfe schnürten die bis zum Po sichtbaren Beine ein, der
Rest war Seide, Goldschmuck und Make-up in Alarmfarben. Nuttig, hätte meine Mutter gesagt.
Das Essen selbst hätte ich gerne im Oswald & Kalb serviert bekommen. Es handelte sich um eine riesige Schüssel voll Fleischbrocken und Knochensplitter, die gemeinsam mit einem Stapel Servietten und einer Schüssel Wasser aufgetragen wurde. Die Ziege, die wir hier vorgesetzt bekamen, war allem Anschein nach vor dem Grillen in eine Häckselmaschine gefallen. Ohne Rücksicht auf die Anatomie des Tieres war es vom Grillmeister klein geschmettert und weitgehend verbrannt worden. Die senegalesische Küche war nicht unbedingt etwas für das Auge und im Vergleich zu diesem Gericht war ein österreichisches Ripperlessen eine Angelegenheit für Gebissträger mit überkultivierter Tischetikette, aber das Fleisch war jenseits aller Vergleiche besser.
Yadikon hatte bestimmt nicht mehr viele Originale im Kiefer, aber sie haute tüchtig rein und war prächtiger Laune. Sie verspottete die Groupies der Musikheroen, lüpfte ihren Boubou und zeigte ihr dürren Waden. Assane rief dem Lokalbesitzer etwas zu und der kam seinen Gehstock schwingend zu uns herüber. Ich verstand wenig von den Gesprächen,
aber es war ganz offensichtlich, dass Assane und seine Familie auch hier in der Promiszene einen Sonderstatus genossen. Wawa, so ließ sich der Besitzer des La Soumbe und Bühnengefährte von James Brown öffentlich nennen, machte sich zwar über das alte Haus und die biedere Lebensart darin lustig, aber in jedem Wort schwang das Wissen mit, dass er im Vergleich zu Assane niemals ein respektabler Mann sein würde. Er war Musiker, ein Griot, und Assane war ein Senghor. Der lockere, zwischen Charme und Frechheit wechselnde Humor, mit dem beide Seiten diese Situation meisterten, gefiel mir gut. Wawa kündigte uns mit großer Geste eine junge Mbalax-Kombo an, die er entdeckt hatte und die heute vor den versammelten Größen der senegalesischen Musik – diesen Hinweis auf die Bedeutung seiner Gäste richtete er exklusiv an mich – ihr Können zeigen oder zum Gespött werden konnten. Die beiden Jazzveteranen hievten einander von der Bühne, Applaus und freundliches Gelächter begleiteten ihren Abgang.
In einem schmalen Korridor, der zum Lieferanten- eingang führte, machten sich die Jungs der Mbalax- Kombo bereit. Sie waren nervös und schielten nach dem coolen Bassisten, aber als sie losgelegt hatten, löste sich der Krampf, und soweit ich das beurteilen konnte, spielten sie gut.
Yadikon wetzte auf ihrem Sessel hin und her und schnippte mit den Fingern, Mamadou steppte im Sitzen mit und selbst Maymouna wiegte ihre Schultern. Wawa faltete im Stile eines Mafiapaten seine Hände über dem Knauf seines Gehstockes und musterte die Darbietung kritisch. Am Nebentisch kratzte sich der coole Bassist die Eier. Es war der kleine Mamadou, der die Sache so richtig in Gang brachte. Er sprang auf und legte ein wundervolles Solo hin. Er war weniger eitel als die Knaben im Alizé und weniger verrückt als der Bettler, den wir gefilmt hatten, aber auch er tanzte nur für die Musik. Sein kleiner Körper bog sich, seine schönen Schuhe glitten über das Parkett – es sah aus, als wollte er sich an sich selbst schmiegen, so sehr genoss er es. Den Musikheroen war das scheinbar zu tuntig und ein athletischer Hüne mit sehr gepflegten Rastas zeigte mit seinem Tanz eine wahre Explosion von Kraft und Wildheit.
Die Frauen an seinem Tisch kicherten oder begannen zu klatschen, die Männer riefen irgendwelche Frechheiten. Nach und nach entsandte jeder Tisch seine Tänzer vor die Bühne, die den jungen Mbalaxspielern mit forderndem Gehabe auf den Zahn fühlten. Der Bandleader war ein leicht untersetzter Knirps, der ununterbrochen grinste, als hätte er einem ein Furzkissen untergeschoben, aber er war großmäulig genug, um vor seinen Idolen zu bestehen und nach drei oder vier Nummern war die Stimmung wirklich gut. Wir bekamen nichts mehr zu trinken, da alle Kellner tanzten, und dann erhob sich Yadikon, reichte mir die Hand, und zog mich auf die Tanzfläche.
Einen Augenblick lang hoffte ich auf eine weitere rettende Valiumausschüttung, aber ich merkte, dass ich riesig Spaß hatte. Assane war klatschend aufgesprungen und hatte seinerseits Maymouna aufs Parkett gebeten. Ich wackelte im Rhythmus mit, so gut ich konnte, und sah zweifellos aus wie ein Idiot. Aber vermutlich war ich ein Idiot, also ging das in Ordnung. Yadikon schüttelte schlurfenden Schrittes den Saum ihres Boubou und war im Nu von Tänzern umringt, die mit Wawa um die Ehre
ritterten, mit dem etwas betagten Backfisch Yadikon tanzen zu dürfen. Assane schlängelte sich neben mich und zeigte mir den elementaren Grundschritt dieses etwas verschleppten Two-Step, der bei seinen Landsleuten so elegant aussah. Ich tat mein Bestes und Assane klatschte lachend die Bigbeats für mich mit, während sich sein Körper mit unnachahmlicher Selbstverständlichkeit durch die verschachtelten Rhythmen bog. Wenige Schritte entfernt tanzte Maymouna minimalistisch und schön, Mamadou zog als verspielter kleiner Satellit seine Kreise um sie.
"Wenn du eine Frau beeindrucken möchtest“, brüllte Assane in mein Ohr, „zeigst du ihr den ‚senegalese ventilator’“
„Muss ich Akrobat sein?“
„Nein“, lachte Assane. „Es geht so.“
Mit einer kleinen Drehung verlagerte er sein Gewicht auf das linke Bein und ließ seine rechte Hüfte provokant und eitel nach vorne federn. Dazu wies er mit beiden Händen und überheblicher Gönnermiene auf sein kreisendes Becken. Seine Bewegungen waren schleppend und von protziger Langsamkeit und obwohl die motorischen Anforderungen an den Tänzer in diesem Fall
tatsächlich vergleichsweise gering waren, war die unendlich selbstherrliche Ausstrahlung dieses Schauspiels praktisch unkopierbar. Dennoch gab ich mir redlich Mühe mit meinem ventilator und Mamadou segelte heran, um mich nach Kräften anzufeuern. Wawa stolzierte herbei und perfektionierte mit einem einzigen, unvergleichlich anzüglichen Schwung seines Beckens meine Technik und Yadikon klatschte mit breitem Grinsen Beifall. Aber es war Maymouna, die mich in den höheren Stand des Tanzens erhob. Sie baute sich mir gegenüber auf, ich zeigte brav meinen ‚toubab ventilator’ und dann antwortete sie: Ihre Schultern strafften sich, sie ging leicht in die Knie und mit hochschnellenden Fersen ließ sie mir ihr Becken entgegenfedern, als würde es von mir angezogen. Dabei sah sie mir geradewegs in die Augen und erst einen knappen halben Meter von mir entfernt machte sie kehrt und rannte lachend wie ein kleines Mädchen zu unserem Tisch zurück.
Mamadou und Yadikon waren aus dem Häuschen, als hätten wir gerade unsere Verlobung bekannt gegeben, Assane tänzelte hinter Maymouna her und holte sie zurück vor die Bühne, die Band gab alles und der wilde Mbalax hüllte uns alle ein. Die Musik klang mit ihren quietschigen Keyboards und dem ungestümen Getrommel ein bisschen zu naiv, die Tänzer schienen ihr extrovertiertes, sexuell überhitztes Gehabe nicht allzu ernst zu meinen und die Frauen präsentierten sich scheinbar nur, um sich selbst zu gefallen. Es war ein heiteres, lebensfrohes Spiel, aber am Ende ging es um die elementaren Dinge. Zu meiner Neugier hatte sich das Verlangen gesellt.
Der nächste Morgen war wunderbar. Niemand hatte mehr als ein Bier getrunken und ich erwachte gänzlich unverkatert; eine nette Abwechslung in Afrika. In meinen Ohren sang noch der Mbalax, am Klo erinnerte ich mich lächelnd an das alberne Gefühl, das ich hatte, als mein Gemächt beim Tanzen fröhlich in meinen Boxershorts schaukelte. Es war Weihnachten.
„Was macht ihr so am Heiligen Abend?“, fragte ich Assane später beim Frühstück auf der Terrasse.
„Weihnachten ist bei uns kein großer Feiertag. Die Christen gehen in die Kirche, nachher essen wir zusammen.“
„Hört sich doch nett an.“
„Leider werden wir nicht dabei sein. Nur müssen wir heute los.“
„Ja? Das ist schade.“
„So?“
„Na ja, ich hätte gerne senegalesisch Weihnachten gefeiert.“
Glatte Lüge. Gestern wäre ich am liebsten gleich aufgebrochen, heute passte es mir überhaupt nicht in den Kram. Ich hätte Assane gerne gebeten, mit mir zum Markt zu fahren, um Geschenke für alle zu kaufen. Ich wollte in meiner Verliebtheit baden.
„Das wirst du. Ein Teil der Familie in Ndangane ist ebenfalls christlich.“
„Und wann geht's los?“
„Heute Nachmittag. Yadikon wird die Geschenke zusammenstellen, wir müssen inzwischen tanken fahren.“
Der Rest des Vormittags verging in hektischem Getriebe, Assane und ich waren lange unterwegs. Als wir zurückkamen, beluden Mamadou und Daffar den Wagen mit Stoffballen, Weißbrotstangen und geschmiedeten Kesseln. Ein gutes Dutzend fremder Menschen drängte sich im Hof, Assane war in eine Art Dauerdiskussion verwickelt: Jeder hatte etwas, um das er uns bitten wollte, für alle gab es – da wir ohnehin unterwegs waren – irgendetwas zu erledigen und keiner hatte ein Telefon. Also standen sie alle hier, belagerten Assane und wollten ihre Töpfe, Ziegen, Brüder und weiß der Teufel was in unserem Pajero verstaut sehen. Ich zog mich in mein Zimmer zurück und packte meine Sachen. Es war schön gewesen hier. Ich war der Gast einer liebenswürdigen Familie, ich hatte gelacht, getanzt und geschwärmt. Jetzt musste ich weiter. Ich war auf der Reise. Ganz unten in meinem Rucksack entdeckte ich den kleinen Stoffbeutel mit neuer
Unterwäsche, die ich für Susanne mitgebracht hatte. Es waren schöne Stücke dabei, Palmers und so. Auch kämpferische Frauen haben's gerne elegant um den Hintern. Ich legte den Beutel auf das Bett und murmelte „Frohe Weihnachten.“ Hoffentlich fand nicht die kleine Frau mein Geschenk.
Ich hätte sie nicht gehört, aber als Maymouna die Türe öffnete, fiel ein Lichtstrahl genau vor mir an die Wand. Ich drehte mich um, sie kam die wenigen Schritte auf mich zu und küsste mich. Ohne ein Geräusch war sie wieder verschwunden.
Hinter uns lag eine verrückte Straße. Die ersten achtzig Kilometer waren im Stil der senegalesischen Überlandstraßen größtenteils unbefahrbar gewesen. Dafür waren die Bankette breit und aus bretthartem Lehm, sodass wir gut vorangekommen waren. In Mbour waren wir stehen geblieben, um eine der beiden Ziegen abzugeben, die wir als Fahrgäste aufgeladen bekommen hatten, knapp davor, in einem Ort namens Saly, war Youssou ausgestiegen, ein echter Feschak, der hier seinen Geschäften nachgehen wollte.
Danach waren wir mit schnurrenden Rädern über eine perfekt ausgebaute Landstraße gerollt, die teils an der Küste entlang, teils durch lichte Wälder gezogen worden war und deren Zustand sich abrupt verschlechterte, nachdem wir ein Touristenressort mit eigenem Tierpark passiert hatten.
Ab da war es immer kritischer geworden. Alle paar Kilometer mussten wir halten, um die verbliebene Ziege am Dach neu zu vertäuen und auch den Rest unserer Fracht nachzusichern. Die Straße war einem Geländezustand gewichen, dessen Befahrbarkeit man je nach Geschick falsch oder richtig einschätzen konnte. Es gab zwar so etwas wie einen Hauptweg, der aber – darauf ließen die
Reifenspuren schließen – am wenigsten befahren wurde. Links und rechts zogen sich Spurrinnen durch das trockene, struppige Gras, die in ein Sandloch führen oder passierbar sein konnten. Je nach dem. Assane wies mich an, hier entlang zu fahren oder jener Spur zu folgen, und wir rumpelten über die verästelte Straße, die an einen unregulierten Flusslauf erinnerte. Die Landschaft um uns war in ihrer Kargheit beeindruckend schön, aber es blieb mir nicht viel Zeit, sie zu bewundern. Der Gedanke, hier vom Einbruch der Dunkelheit überrascht zu werden, schien auch Assane zu beunruhigen. Er kläffte mir knappe Anweisungen zu, ich steuerte, die Augen auf die Piste geheftet, bis sie schmerzten. Wir waren ein Rallye-Team auf der berühmten Etappe Dakar – Ndangane.
Gegen achtzehn Uhr entspannte sich die Lage, die Luft roch nach Wasser. Straße war jetzt keine mehr zu sehen, dafür lag eine riesige Fläche trockenen Schwemmlandes vor uns, auf dessen harter Kruste wir so gut vorankamen wie auf Asphalt.
„Wir haben's gleich geschafft“, meinte Assane. Er sah müde aus.
Kurze Zeit später kam der Fluss in Sicht. Er hieß Saloum und vereinigte sich knapp vor seiner Mündung mit einem kleineren Fluss namens Sine. Gemeinsam gaben sie der riesigen, mangrovenüberzogenen Deltalandschaft vor uns ihren Namen: Sine Saloum. Jetzt, da ich nicht mehr auf eine unsichtbare Straße zu starren brauchte, bis mir die Augen aus den Höhlen zu bröseln drohten, meinte ich, den gesamten Zauber, der in diesem Namen steckte, zu erkennen. Flach und grün lag das Land vor uns, nur überragt von schwarzen Affenbrotbäumen, deren Äste dürr und knorrig in den Himmel wuchsen. Der Wagen grub sich durch den Lehm auf eine wenige Meter hohe Kuppe und vor uns lag in einer der zahllosen Windungen des Saloum der Ort Ndangane. Das Ufer war gesäumt von bunten Pirogen, das Wasser wirkte schwarz unter der abendlichen Sonne, schlichte Steinhäuser
klebten am Ufer. Obwohl es nur zwei Dutzend sein mochten, hatten sie das Flair eines verwinkelten Hafenviertels. Einzelne Palmen stachen in den Himmel über dem Dorf, anders als noch vor wenigen Kilometern ließen die Mangroven hier alles grün und üppig erscheinen.
Bei näherer Betrachtung war Ndangane zweigeteilt. Der modernere Ortskern lag an einer ausgebauten Straße, die ins Landesinnere nach Fatick führte, und bestand zum größten Teil aus den Appartements und Campements französischer Aussteiger, die hier vom wachsenden Tourismus lebten. Wir hingegen hatten uns von der Küste kommend Ndangane – Sambu, dem alten Zentrum, genähert, wo das Sommerhaus des Präsidenten der Senghor-Familie stand. Hier hatten sich einige der ehrwürdigen Familienältesten der mütterlichen Linie versammelt, um nach Dakar zu reisen: Wir waren am Ziel.
Zur Kenntnis nahm das allerdings niemand; im Hof des mächtigen Anwesens tobte ein heftiger Streit.
Ein junger Mann mit dicker Brille führte die Rede, während eine Gruppe älterer Männer in barschestem Wolof durcheinander bellte. Jeder ein geschulter Redner, jeder ohne Interesse daran, dass niemand zuhörte und alle sprachen. Im Hintergrund verluden einige Kinder Coca-Cola- Kisten von einem klapprigen Laster auf einen Steg.
„Was ist denn hier los?“
„Sie regen sich auf. Mal sehen,“ meinte Assane und ging über den Hof auf die Männer zu. Der bebrillte Oberredner hielt kurz inne und begrüßte Assane. Nach und nach kamen auch die Alten zur Ruhe und ließen sich von Assane die gebotene Ehre erweisen. Die meisten von ihnen trugen flache, zylindrische Kappen, die ihre hageren Greisengesichter noch länger und weiser erscheinen ließen, als sie ohnehin schon aussahen. Einige hatten zudem weiße Kinnbärte und waren in prächtige afrikanische Hemden gehüllt. Anders als die leichteren Boubous bestanden diese Kleider aus einer Unmenge Stoff, die über den Schultern zusammengerafft wurde. In Kombination mit den prächtigen, brokatartigen Textilien, aus denen die bodenlangen Oberteile
gemacht waren, verlieh diese Betonung der Schultern dem Träger ein äußerst herrisches Erscheinungsbild. Die finsteren, faltenzerfurchten Gesichter der Alten taten das Übrige. Assane neigte höflich seinen Kopf vor jeder dieser Erscheinungen und ließ die unfreundlichen Bemerkungen, zu denen er offenbar Anlass gab, geduldig über sich ergehen. Wenige Minuten später war die Diskussion wieder in vollem Gange, das Thema ‚Assane und sein Toubab’ war abgehakt.
Assane kam zu mir herüber und meinte: „Ich stelle dich später vor. Sie regen sich zu sehr auf. Aber das legt sich.“
„Was ist denn eigentlich los?“
„Man hat bekannt gegeben, dass Senghor in Dakar beerdigt wird. Der Clan ist bisher davon ausgegangen, dass sie nach Dakar fahren werden, um die Leiche abzuholen. Sie wollen ihn in Djilor beisetzen.“
Ich wollte nicht fragen, ob es Teil des Plans gewesen war, ihn in meinem Wagen zu überstellen.
„Und warum sollte er nicht in Dakar begraben werden? Ich meine, das ist die Hauptstadt, oder?“
„Ja. Aber er ist in Djilor geboren. Gleichzeitig haben die Leute in Joal-Fadiout bereits Protestaktionen
angemeldet, falls Senghor nicht in Joal beigesetzt werden sollte, weil er dort als Kind gelebt hat.“
„Und bevor jetzt die Region in den Flammen eines wüsten Krieges um die Leiche versinkt, hat Dakar beschlossen, sie zu behalten.“
„Ganz so einfach ist das nicht, aber es läuft darauf hinaus. Im Moment wird gerade beraten, ob sie überhaupt fahren wollen.“
Der Gedanke, beinahe 150 sandige Kilometer zwischen mich und die Lippen von Maymouna gebracht zu haben – und das vergebens –, ließ mich in dumpfen Groll verfallen. Ich trottete neben Assane her, schleppte meine Tasche in das mir zugewiesene Zimmer und sagte Assane zu, um neun zum Essen zu kommen.
„Leider“, sagte er und freundlicher Spott klang in seiner Stimme mit, „die Kirchgänger sind schon weg. Wir werden Weihnachten hier feiern müssen.“
„Ist ok, das Singen in der Kirche hat mich ohnehin nicht gerade versöhnt mit der Christenheit.“
Assane lachte.
Als er gegangen war, stellte ich mich eine Weile ans Fenster. Das Zimmer war traumhaft. Es hatte einen Balkon und befand sich in einem Nebengebäude des herrschaftlichen Wohnhauses in kolonialem Stil, das am Wasser lag wie eine Burg. Schräg unter meinem Balkon führte eine abschüssige Ausfahrt zu einem breiten Ladesteg am Fluss hinunter. Die anderen Gebäude der Anlage waren ebenerdig und bildeten mit dem Haupthaus ein Geviert, das sich zwischen Straße und Fluss erstreckte. In der Mitte lag ein staubiger Hof, der mit ausladenden Bäumen bepflanzt war. Der Zustand dieses subtropischen Vierkanters gab Aufschluss über eine strenge Hierarchie unter den Bewohnern: Das Haus an der Straße hatte Türen aus flattrigem Blech und nur winzige Fenster, während die Gebäude nahe dem Haupthaus schöne Holztüren und große Fenster mit Läden hatten, die auch dicht schlossen. Mein Zimmer lag an der Stirnseite eines dieser Gebäude und befand sich damit auf derselben Höhe wie das Wohnhaus des Präsidenten der Familie Senghor. Wenn man mir dieses Zimmer als Zeichen der Anerkennung für meinen Einsatz zugewiesen hatte, brachte man mir beinahe ein Maximum an Respekt entgegen.
Ich trat auf den Balkon und blickte auf den Fluss hinunter. Direkt unter mir fiel die Uferböschung steil zum Wasser ab und ich stand gute drei Meter über dem ruhigen Strom des Saloum. Schräg unter mir luden junge Männer die Cola-Kisten aus dem Hof in eine große Piroge. Die Sonne versank hinter den Mangroven, der Himmel leuchtete orange über dem schwarzen Wasser. Bei aller Pracht war mir Afrika zur Kulisse verkommen. Der Duft, die Haut, die kurze Berührung – am liebsten hätte ich mich ins Auto gesetzt, um augenblicklich zu Maymouna zurückzufahren. Gestern noch hatte ich gedacht, ich wäre alleine in Afrika. Alles um mich war mir so fremd erschienen, als könnte ich es nicht einmal berühren, wenn ich meine Hand darauf legte. Aber seit Maymounas Kuss war ich nicht mehr allein und die Fremdheit zeigte sich nun als Leidenschaft.
Das Essen nahmen wir im Hof gemeinsam mit Battara, dem bebrillten Jüngling, und seiner Familie ein. Es gab Reis und Fisch mit zerkochtem Gemüse. Ich hielt mich an den Reis. Während ich mir die Finger verbrannte, plauderte Assane mit Battara und setzte mir zwischendurch überblicksartig die Bedeutung dieses Ortes auseinander. Battara war der Verwalter des Anwesens, das dem Zweig der Senghor Familie aus dem Sine-Saloum als gesellschaftliches und wirtschaftliches Zentrum diente. Er und seine Familie lebten ständig hier, einige seiner Verwandten waren Händler und nutzten die Niederlassung als Station, um Waren und Gäste aufzunehmen, wenn sie mit großen Pirogen ins Landesinnere unterwegs waren. Der Bruder des Besitzers selbst betrieb in den regenfreien Monaten einen Bootsverleih und organisierte Fischtouren für französische Gäste. Ein weiterer Bruder versorgte ein Touristenressort, das wieder ein anderer Bruder auf einer Insel im Delta gebaut hatte. Darüber hinaus gab es noch einen Haufen Cousins und Freunde und Ehemänner von Schwestern, die hier auch allerhand zu erledigen hatten. Battara erklärte mir in gebrochenem Englisch, dass mit den
Umsätzen, die hier gemacht wurden, insgesamt rund 250 mehr oder weniger nahe Verwandte des hiesigen Senghor Clans ihr Auslangen finden mussten. Die Fischerei als traditionelle Einkunftsquelle gab nicht mehr viel her.
„Außerdem ist in meinem Land der Gedanke weit verbreitet, dass eine Handvoll geschenkt besser ist, als ein Sackvoll, wenn man dafür arbeiten muss“, fügte Assane hinzu. Battara lachte bitter.
Zunächst hatte mich der Gedanke erheitert, dass eine Familie einen eigenen Präsidenten brauchte, aber der Senghor Clan wurde offenbar geführt wie ein Mischkonzern. Außerdem bedurfte es zumindest der Autorität eines Präsidentenamtes, um der Horde würdiger Greise vorzustehen, von deren Halsstarrigkeit ich im Hof einen ersten Eindruck gewonnen hatte.
Battara redete sich beinahe so in Fahrt wie einer der Alten und meinte grimmig, die Regierung hätte die Frage des Beisetzungsortes so rasch entschieden, da sie sich mit dem Thema Senghor in Wahrheit nicht befassen wollte. Abdoulaye Wade, der regierende Präsident, wollte nach Kräften eine Diskussion über die Werte und die Tradition des Senegal vermeiden, da er nach Battaras Darstellung den
bedingungslosen Ausverkauf an französische Investoren betrieb und kein Interesse hatte, sich mit der wahren Natur der senegalesischen Unabhängigkeit zu befassen. Neben dem Kauf von Villen für Regierungsmitglieder reichten die Erlöse aus den Privatisierungen nicht einmal, um die Zinsen an die Weltbank zurückzuzahlen.
„Weißt du, was Adrienne dazu sagt?“, fragte er schließlich aufgebracht. „Wenn uns die Weltbank die Schulden erlässt, sind wir nicht einmal mehr Schuldner. Wir sind weg vom Fenster.“
„Schulden machen eben Leute,“ meinte Assane, aber Battara war nicht der Typ für Ironie. Ganz im Stil der Alten blähte er sich auf und ließ eine Rede vom Stapel. Da er mich – immerhin 50% seiner Zuhörerschaft – nicht gänzlich verlieren wollte, sprach er widerwillig französisch.
„Wer nicht weiß, wer er ist, wird es nie zu mehr bringen, als zum Schuldner! Aber wer wir sind, das kann uns die Weltbank nicht sagen und keiner von Abley Wades Investoren. Eines Tages werden die wieder weg sein, aber wir werden noch da sein. Und wir werden dastehen wie die Affen und verzweifelt den Nächsten suchen, der uns endlich ausbeuten kommt, damit wir nicht nachdenken müssen, an
wen wir unsere Erdnüsse verkaufen sollen. Aber wir müssen nachdenken. Wir müssen wissen, wer wir sind. Und das kann uns nur unsere Kultur sagen. Aber Wade tritt sie mit Füßen!“
"D'accord, Battara,“ sagte einer der Alten, der sich dem Redner unbemerkt von hinten genähert hatte. Er drückte ihm sanft seine alte Faust gegen den Kopf und schnippte mit den Fingern. Assane lachte und Battara schüttelte den Kopf wie ein trotziger Bub. Der Alte raffte den Stoff seines prächtigen Kleides zusammen und ließ sich bei uns nieder. Battaras Frau hatte das Essen auf einer riesigen Bastmatte serviert, auf der wir saßen, immer streng darauf bedacht, die Füße neben der Matte zu lassen. Das war unbequem, aber die Tradition schien es zu verlangen.
„Wer sind Sie?“ fragte mich der Alte unvermittelt.
„Ich heiße Martin, ein Freund von Assane. Ich Sie bringe nach Dakar.“
„Sie sprechen nicht Französisch?“
„Nicht sehr.“
„Ah,“ meinte der Alte und begann mit Assane Wolof zu sprechen. Nachdem er geendet hatte, teilte mir Assane mit, dass ich vor Diounne Senghor saß, einem Halbbruder des verstorbenen Präsidenten,
der mich im Namen der Senghor Familie willkommen hieß und mir für die Unterstützung dankte, die ich ihnen in dieser schwierigen Situation anbot. Außerdem wollte er wissen, was ich denn von Battaras Rede dachte. Wie wohl die meisten Österreicher war ich in Fragen, die die Weltbank betrafen, nicht sehr bewandert. Susanne hatte mir lediglich vom Fluch der Strukturanpassungs- programme erzählt, die an die Vergabe von Weltbankkrediten beziehungsweise die weitere Stundung der dafür fälligen Zinsen geknüpft wurden und deren Zielsetzungen für die Weltbank und die WTO sinnvoll sein mochten, den regionalen Bedürfnissen der Bevölkerung jedoch zumeist zuwiderliefen.
„Es ist Ehre für mich zu helfen,“ begann ich in wackeligstem Französisch und fuhr auf Englisch fort: „Ich halte es für falsch, einem Land ein Wirtschaftssystem aufzuzwingen, das vielleicht nicht dessen Anforderungen entspricht und in einer ganz anderen wirtschaftlichen Lage entstanden ist.“
Assane übersetzte und der alte Mann schwieg für einen Moment. Seine Antwort lautete: „In Afrika fließen drei Kulturen ineinander: Die des Islam, die europäische und unsere eigene. Leider wählen wir aus
all diesen Errungenschaften oft die schlechtesten.“
„Unsere eigene Kultur!“, keifte Battara, „Wir haben doch gar keine mehr! Die einen wollen nach Europa, die anderen nach Dakar, weil sie glauben, das ist schon Europa und die meisten sitzen herum und tun gar nichts!“
Der Rest der Diskussion wurde auf Wolof geführt und ich hielt mich raus. Wenn wir hier tatsächlich festsitzen sollten, bis eine Entscheidung herbeidiskutiert worden war, hatte Assane gewiss noch genug Zeit, mir eine Zusammenfassung zu liefern.
Diounne beendete schließlich das Gespräch und erhob sich. Battara blieb mit bitterer Miene sitzen und Assane lud mich ein, im anderen Teil von Ndangane ein Bier trinken zu gehen. Immerhin war Heiliger Abend.
Der Mond stand hell und groß am Himmel, Assane und ich spazierten über das harte, flache Schwemmland. Oben am Mond sah es vermutlich ähnlich aus.
„Im Sommer ist hier alles voll Wasser. Nur die Straße da drüben ist passierbar.“
In einiger Entfernung trennte ein schmaler Damm das helle Grau des brüchigen Bodens und das struppige Schwarz der Mangroven. Dort schien es eine Straße zu geben, auf der Böschung lag das Gerippe eines alten Kleinbusses.
Ich fragte Assane, ob er die Ansicht des alten Senghor teilte, dass die Senegalesen tatsächlich etwas wählen konnten.
„Wir sind keine Bedürftigen, so wie man sie bei euch im Fernsehen sieht“, meinte Assane. „Du hast unser Leben gesehen. Hältst du uns für Opfer der Armut, die keine Wahl haben?“
„Nein.“
„Eben. Die meisten von uns haben die Wahl. Und Diounne hat Recht. Viele wählen das Falsche. Sie wollen nach Europa gehen und machen damit ihr Land zu einer Wartehalle. Einem Lager. Sie leisten hier nichts, weil sie glauben, es zahlt sich nicht aus.“
„Und Battara?“
„Widerstand zu leisten gegen die Auswüchse der fremden Wirtschaft ist wichtig. Aber es gibt uns noch keine Identität.“
In der Ferne konnte ich kitschige Lichterketten erkennen, die die Gärten der französischen Campements beleuchteten und scheinbar die gespenstische Fremdartigkeit der Landschaft von den Ferienanlagen fernhalten sollten. Der Wind trug Fetzen von Weihnachtsliedern heran, gesungen von betrunkenen Franzosen.
Assane und ich kehrten in einem unscheinbaren Campement etwas außerhalb des neuen, touristischen Ndangane ein, das aus wenigen kleinen Bungalows und einer offenen Küche unter einem Strohdach bestand. Es wurde von Senegalesen geführt und wir waren die einzigen Gäste.
„Joyeux Noël“, sagte Assane und prostete mir zu.
„Joyeux Noël!“
Ich war ein schlechter Gast. Trotz der Klimaanlage und der guten Federung des Pajero hatte mich die Fahrt müde gemacht und das Bier brachte mir diesen Umstand überdeutlich zur Kenntnis. Assane war hierher gekommen, um mit mir Weihnachten zu feiern, und ich schlief fast ein. Ich hätte mich ihm gerne anvertraut und gefragt, wer Maymouna eigentlich war. Aber was, wenn er meine für Maymouna erwachte Leidenschaft als billige, sextouristische Eskapade betrachtete? Beschämenderweise sah ich mich nicht in der Lage, den Unterschied in klaren, logischen Gedanken darzustellen, und wich der Diskussion aus. Ich wusste nur, dass ich mich nicht schäbig fühlte, sondern verliebt war. Aber das war wohl kein besonders gutes Argument.
Assane hingegen war ein guter Gastgeber und brachte mir bei, wie man auf Wolof „Ich bin müde“ sagt. Dama sonn, hieß das und ich lächelte:
„Dama sonn.“
„Ich auch“, meinte Assane. „Wenn du möchtest, können wir morgen mit dem Boot zur Insel Mar Lodj fahren. Hier wird sich nicht viel tun. Senghor wird von Verson nach Paris überstellt, alle werden fernsehen.“
„Gerne.“
Ich verlangte die Rechnung und eine dickliche junge Frau kam zu uns an den Tisch. Sie begann, mit Assane zu reden, und während sie sprach, verfinsterte sich sein Gesicht. Er antwortete in barschem Wolof und sie keifte über meinen Kopf hinweg zurück. Das ging ein Weilchen so hin und her, bis Assane einen 1000-CFA-Schein und einige Münzen auf den Tisch warf.
„Ñu ngi dem.“
„Was war?“, fragte ich draußen.
„Weißt du, sie machen mich verrückt. Diese Frau kommt zu mir und sagt, wie schlecht das Geschäft geht, die Franzosen nehmen ihr alle Kunden weg. Dann sind da noch die Kinder und natürlich ihr Mann, der keine Arbeit als Fischer hat, weil es gerade nicht gut geht. Und dann bittet sie mich, dir zu sagen, das Bier koste das Doppelte des normalen Preises.“
„Das ist nicht sehr fein, aber doch auch nicht wirklich schlimm.“
„Doch es ist schlimm. Sie hat ein Restaurant, sie ist Geschäftsfrau geworden. Und das war klug, weil immer mehr Touristen hierher kommen werden. Aber kaum gibt es Probleme, möchte sie keine Geschäftsfrau mehr sein. Sie möchte eine Bettlerin und Diebin sein. So kann man nichts erwarten.“
Ich stapfte über den spröde verkrusteten Matsch und bewunderte Assane ein bisschen. Er hatte eine klare Meinung von seinen Landsleuten und sie war nicht wirklich gut. Aber er verdammte sie nicht deswegen. Er sprach mit ihnen und forderte sie auf, das Richtige zu tun. Er dachte für seine ganze Nation und war stolz auf das, was sie sein konnte.
Unser Boot schaukelte über die Wellen, der Motor tuckerte, in den Mangroven hing der Dunst des Morgens. Gelegentlich wies der Junge am Steuer hierhin oder dahin, um uns auf einen Reiher oder Pelikan aufmerksam zu machen. Einmal würgte er den Außenbordmotor ab und wir glitten fast geräuschlos auf eine Insel zu, die sich in den Wurzeln eines mächtigen Baobab verfangen zu haben schien. Auf einem der knorrigen Äste saß ein Fischadler und starrte uns mürrisch an.
Assane und ich hatten uns um sieben zum Frühstück verabredet und da nur relativ wenige Leute am Hof unterwegs gewesen waren, waren wir schon seit acht Uhr am Wasser. Wir hatten eine Piroge gemietet, mein Wunsch, den vollen, regulären Preis zu zahlen, hatte unsere Gastgeber gekränkt. Geld war ein sehr bedeutendes Thema im Senegal, die Regeln im Umgang mit dieser Bedeutung waren allerdings schwer zu durchschauen.
Der Fischadler wandte seinen Kopf ab, Aylin, der Steuermann, warf den Motor wieder an und wir tuckerten weiter.
Der Mangrovenwald überzog das labyrinthische Delta, die Sonne hing undeutlich hinter den Schleiern hoher Luftfeuchtigkeit.
Sich hier zu verirren und zu verlieren war einfach für einen Weißen.
„Ich denke, es ist richtig, wenn du Susanna vergisst“, holte mich Assane zurück.
Ich hatte nichts gesagt, also tat er es. Und er hatte sich einen guten Zeitpunkt ausgesucht. Hier konnte ich nicht gut ausweichen. „Susanna? Soviel ich weiß, heißt sie Susanne.“
„Susanna klingt schöner.“ Assane wirkte sehr entspannt. „Ich habe viel mit ihr gesprochen. Sie sagt, du warst einmal der Richtige für sie, aber alles hat sich geändert.“
„Das habe ich gemerkt.“
„Auch hier ändert sich oft alles. Aber in Europa gibt es den Vorteil, dass man sich immer wieder entscheiden kann.“
Jetzt waren wir am Weg.
„Du hast recht. Geschworen wird auf die Ewigkeit, gedacht wird in Wochen.“
„Ich denke, die Europäer wissen gar nicht, was für einen Luxus sie in dieser Sache haben: Susanna, Nadine, die mir die Autos schickt, andere Bekannte von mir, alle sagen: ‚Ja, Beziehungen habe ich schon einige gehabt, aber heiraten würde ich – wenn überhaupt – nur meine große Liebe.’ Das muss man sich leisten können.“
„Auf der anderen Seite: Wie soll man es mit jemandem sein Leben lang aushalten, wenn man ihn nicht wirklich liebt?“
„Ich bin nicht sicher, ob es diese Liebe gibt. Mit jemandem zu leben, ist immer auch ein Arrangement.“
„Das mag stimmen. Vielleicht ist die Liebe wirklich Luxus, aber die Möglichkeit, aus seinem Arrangement auszusteigen, es sich auch vor Ablauf der Ewigkeit noch mal zu überlegen, die sollte jeder haben.“
„Im Senegal ist das für die Wenigsten so. Nur jeder zehnte Mann hat Arbeit, für Frauen gibt es fast gar keine Jobs; heiraten, sich einen Mann suchen, das ist normalerweise die einzige Möglichkeit für eine Frau, sich abzusichern. Aber es gibt sehr viel mehr Frauen als Männer im Senegal und die Familien zerbrechen. Die Aussichten der meisten Frauen sind wirklich beschissen.“ Er machte eine kleine Pause und strich mit seiner Hand durch das gekräuselte Wasser unserer Bugwelle.
„Man sollte also nicht allzu stolz sein, wenn man hier als reicher Weißer einem Mädchen den Kopf verdreht.“
Ich saß in diesem winzigen Boot, rund herum gab es nichts. Keine Mangroven, keine Morgensonne auf den verschlungenen Wasserarmen, keine Pelikane, keinen Weg zurück. „Verstehe.“
Assane lächelte. „Ich glaube trotzdem nicht, dass du für Maymouna nur ein Ticket bist.“
„Ein Ticket?“
„Nach Europa. Ins Land der Super-Versorger.“
Assane hatte mir mit einem satten Hieb klargemacht, dass es hier nicht um Leidenschaft und Fremdheit oder Neugier und Verlangen ging. Während sich unser Boot langsam durch das gleißende Wasser schnitt, erzählte mir Assane, wie es auf seiner Seite aussah.
Am Abend von Mariamas Hochzeit mit Fatik versammelten sich die Familien des Brautpaars vor dem Haus, das die Brautleute heute bezogen hatten, um gemeinsam bis zum nächsten Morgen die Vermählung der Kinder zu feiern. Das Haus war klein, aber Fatik hatte es gemauert, das Hirsestroh am Dach war frisch und roch nach Erntezeit. Mariama hatte das Laken auf die Bastmatte gebreitet, lange saß sie mit Fatik im einzigen Zimmer ihres neuen Hauses. Draußen im Dorf, vor dem Zaun aus den Schäften des Runi-Baumes, hörten sie ihre Verwandten lachen und essen, das Tam Tam tönte durch die Nacht.
Es war früher Morgen und kalt, als sich Fatik erhob, sich mit dem Messer in den Daumen schnitt und das Laken mit dem jungfräulichen Blut seiner Hand verzierte.
Mariama war Maymounas älteste Schwester und als die Sonne am ersten Tag nach ihrer Hochzeit aufgegangen war, war sie mit Fatik vor das Haus getreten und hatte im Jubel des halben Dorfes ihren Eltern und Schwiegereltern das blutige Laken präsentiert. Sie war fünfundzwanzig Jahre älter als Maymouna und hatte ihr diese Geschichte an jenem Tag erzählt, an dem Maymouna von ihrem Vater verstoßen worden war.
„Hör zu,“ hatte sie gesagt, „man sollte leben, wie man es für richtig hält. Wir mussten es verbergen, du musst das jetzt nicht mehr.“
Maymouna war nicht dazu erzogen worden, etwas zu verbergen. Wie ihre älteren Geschwister war sie von Mariemé, der ersten Frau ihres Vaters, erzogen worden, da ihre eigene Mutter N'gone selbst fast noch ein Kind gewesen war, als sie mit Maymouna schwanger geworden war. Auch die junge N'gone war von Mariemé zu einer Frau erzogen worden. Ohne Groll, ohne Bosheit. Obwohl sie die Liebe ihres Lebens zerstört hatte.
Als Mariemé fast zwanzig Jahre vor N'gones Geburt ihren Moussa geheiratet hatte, waren alle in ihrem Dorf sicher, dass sie damit das Glück ihres Lebens gemacht hatte. Moussa war der fleißigste Mann am ganzen Saloum-Fluss und während ihm seine Frau in rascher Folge Mariama, ein wunderschönes Mädchen, Mamoussa, den späteren Laamb-Kämpfer, Sédar, benannt nach dem großen Präsidenten der jungen Republik, und die stille Oumou schenkte, betraute ihn der französische Patron mit der Leitung eines Handelspostens nahe der Mündung des Sine in den Saloum. Nach Erlangung der Unabhängigkeit wurde Moussa sogar gestattet, den Handel selbst
weiterzuführen. Moussa war eine Respektsperson geworden: gläubig, streng, gerecht und reich. Und Mariemé war seine Frau. Sie wurde geachtet, respektiert und beneidet.
„Warum sollte so ein Mann mit nur einer Frau zufrieden sein?“, wurde oft gefragt. „Die Zeiten sind schlecht“, hörte man die Menschen klagen, „und während Moussa Traoré sein vieles Geld auf so wenige Mäuler verteilt, müssen wir hungern.“
„Ist so der Sohn eines Dorfes zu seinem Dorf?“, wurde gefragt. „Wir leisten die Arbeit auf den Feldern und er, der Freund der Marabouts, bekommt das Geld dafür.“
Aber die Zeiten wurden noch schlechter. Senghor wurde zum ersten senegalesischen Präsidenten in Ruhe und zog sich nach Paris zurück. Andere kamen, die man am Land auch nie zu Gesicht bekam, die Preise für die gerte fielen. Kaolack, Thiès und Diourbel – Herz, Lunge und Leben des Bassin Arachidier – waren nicht besser dran als der sandige Norden. Zumindest nicht viel. Die Männer saßen zu Hause bei ihren Frauen und die Frauen sprachen davon, dass ein Mann wie Moussa eine Frau wie ihre Tochter gebrauchen könnte. Damit wäre Moussas Wohlstand auch der Wohlstand der
Tochter und für eine gute Tochter gab es keinen Grund, den neuen Wohlstand nicht mit ihrer Familie zu teilen.
Davon sprachen die Frauen so lange, bis die Männer ihr Weniges zum Marabout brachten, damit er für das Glück der Familie beten und Allah Moussas Herz den Reizen ihrer Töchter öffnen würde.
Moussa sah die vielen Töchter und Moussa sah auch die große Not. Aber er war Mariemés Ehemann und obwohl er das Recht auf vier Frauen hatte, hatte er ihr das Versprechen gegeben, auf sein Recht zu verzichten. Wenn auch Platz war in seinem Haus, sein Herz sollte erfüllt sein von der Liebe zu Mariemé. Das sagte er sich, das sagte er Mariemé und das sagte er dem Marabout, der ihn an seine Pflicht als wohlhabender Mann erinnerte.
„Von einem Recht nicht Gebrauch zu machen, das einer armen Familie den Unterhalt sichern kann, ist ein Unrecht“, sagt der Marabout.
Moussa Traoré war ein gläubiger Mann, Freund der Marabouts, wohlhabend, streng und gerecht. N'gone Bâ war achtzehn Jahre alt, ihr Hintern wölbte ihren verschlissenen Boubou und ihre Brüste standen steil nach vor. Moussa wollte kein Unrecht begehen, sie wurde seine zweite Frau.
Es hatte eine Weile gedauert, bis ich mich an Assanes mäandernde Art des Geschichtenerzählens gewöhnt hatte. Namen, Laken, Erdnüsse und Präsidenten wirbelten durch meinen Kopf und setzten sich erst langsam zu einem Bild von Maymounas Leben zusammen.
Mariemé blieb Moussas Frau. Seine erste Frau. Sie wurde geachtet und respektiert, aber beneidet wurde sie nicht mehr. Beneidet wurde jetzt die junge N'gone.
„Warum sie?“, keiften alle Mütter, die N'gone nicht geboren hatten.
„Sieh sie dir doch an“, sagten alle Männer, die N'gone nicht bekommen hatten.
„Was ist mit dir?“, fragte Moussa seine Mariemé.
„Ich bin noch in deinem Haus, aber ich bin nicht mehr in deinem Herzen“, sagte Mariemé. „Ich bin die Mutter deiner Kinder und werde auch N'gone eine Mutter sein. Aber ich werde nicht mehr deine Frau sein.“
Sie sah an ihrem alternden Körper hinab und sie schämte sich für ihren Mann. Die Not lindern, seine Pflicht tun. In der Nacht hörte sie ihn über N'gone schnauben.
Maymouna wurde als Erste geboren. Wenn es möglich war, war sie noch schöner als Mariama, ihre älteste Schwester. Dann kamen Babe und Aylin. Viele Frauen rächten sich für die Schmach, die die Jüngere bedeutete, dadurch, dass sie ihr das Leben zur Hölle machten. Wenn sie selbst einmal
kochten, verprassten sie dabei das Geld für eine
Woche und schimpften dann über die Unfähigkeit der Jungen, das Geld zusammenzuhalten. Kochte die Jüngere, taten sie Salz in den Laax und schlugen die junge Köchin, weil sie dem Mann das Essen verdorben hatte. Hatten sie nichts zu tun, verfluchten sie die Familie der Jungen und spotteten über die Brut von Verrückten, die sie hervorbrachte. In der Regel waren die jungen Frauen die Pension der alten Frauen und die alten Frauen gaben den jungen Frauen all die Schmach und Prügel weiter, die sie selbst hatten einstecken müssen.
Mariemé war anders. Sie rächte sich nicht an N'gone für die Schmach, die Moussa ihr angetan hatte. Um N'gone kümmerte sich die Zeit, die ihren Hintern welk und ihre Brüste schlaff werden ließ. Sie rächte sich auch nicht an N'gones Kindern. Sie zog sie mit all ihrer Liebe und all ihrem Wissen groß, als wären es ihre eigenen. Sie rächte sich an Moussa, indem sie seinen Kindern einen größeren Horizont gab, als er ertragen konnte. Hatte nicht Senghor, der Katholik, den selbst die Muriden liebten, gesagt, man müsse weltoffen sein? Sie selbst wusste nicht, wie die Welt jenseits von Fatick, wohin ihre weiteste
Reise sie geführt hatte, aussah, aber sie wusste, dass es in Dakar die Universität gab.
Mamoussa war Laamb-Kämpfer. Er brachte an einem Tag mehr Ernte ein, als zwei Männer seines Alters und zwei ältere Männer zusammen. Er verstand das Land, er verstand den Boden, er konnte zählen und er war hart. Wenn es möglich war, würde er den Handel noch besser betreiben, als sein Vater es getan hatte. Mariama und Oumou waren verheiratet, Sédar war gestorben; benannt nach Léopold Sédar Senghor hatte er die Enttäuschung nicht erleben müssen, die sein Namenspatron für die Menschen am Land geworden war. Mit vierzehn war er ertrunken. Maymouna war das Kind, das Mariemé auf ihre Idee gebracht hatte. Sie war gescheit und fleißig und als Mariemé die Männer schachern und die Frauen keifen hörte, noch bevor Maymouna richtig laufen konnte, beschloss sie, ihr den Weg zu ebnen. Maymouna würde die Schule besuchen, genauso wie Babe und Aylin. Nur, in Soum, wo die Traorés lebten, gab es keine Grundschule.
„Was willst du machen. Babe und Aylin gehen in die Dahra. Maymouna wird heiraten wie ihre
Schwestern.“ Für Moussa war das Thema erledigt.
„Maymouna geht in die Grundschule. Und ihre Brüder auch. Selbst wenn sie nur deine Kinder sind,
ich werde sie nicht in die Hände der Marabouts geben.“
Die nächste Grundschule war in Fatick, wo Ouleymatou Bâ lebte, eine von N'gones Tanten. Bei der Hochzeit war sie in Soum eingefallen mit ihrem Mann, seinen zwei jüngeren Frauen, ihren Söhnen, Töchtern, Nichten, Neffen, Brüdern und Schwestern und Menschen, die den langen Weg nicht gescheut hatten, obwohl sie nicht zur Familie gehörten. Lauthals war das schwere Leben beklagt worden, lauthals war Allah gepriesen worden für seine Güte, die N'gone an Moussas Seite geführt hatte. Ouleymatou hatte alles an Geschenken an sich gerissen, was N'gone zugestanden wäre, und selbst hatte sie ein paar alte Tücher mitgebracht, die angeblich der ganze Stolz der Familie waren. Seit damals hatte sie bei jeder Gelegenheit ihre Wut und Verzweiflung darüber ausrichten lassen, dass die reiche N'gone sich niemals ihrer armen Verwandten im dreckigen Fatick besann, sondern all den Wohlstand und die Pracht ihres Lebens als Händlergattin für sich alleine beanspruchte.
Maymouna zog nach Fatick, wo sie in Empfang genommen wurde wie ein Schlachtopfer.
„Ouleymatou lässt mein Kind arbeiten und im
Ziegenstall schlafen! Und dafür will sie auch noch Geld!“ Moussa war außer sich.
„Hast du N'gone nicht wegen deiner Verantwortung als reicher Mann geheiratet? Jetzt trage sie, die Verantwortung. Zahlbar in Boubous und Pagnes aus kostbarem Tuch, Geld und Getreide und wochenlangen Besuchen von N'gones Sippe, die trotz all dieser Zuwendungen niemals müde wird, das schwere, schwere Leben der Familie zu beklagen. Du bist der reiche Mann, der sich das leisten wollte.“
Moussa war müde. Kein Tag verging, an dem nicht N'gone sich beklagt und mehr von irgendetwas gefordert hätte, an keinem Tag schonte ihn Mariemé. Moussa war müde, aber sein Groll wuchs. Er sah Maymouna mit Bestnoten die Aufnahmeprüfung für die Oberschule bestehen und auch Babe entfernte sich mit jedem Jahr des strebsamen Lernens von der Welt seines Vaters und ihren Werten.
Aylin hatte es offenbar nicht gebracht. Er saß hinter mir im Boot, um seine beiden großen Zehen hatte er je eine Angelschnur gewickelt und sah helle aus wie ein Stück Holz. Maymouna und Babe allerdings waren eine Revolution gewesen. Assane sprach weiter und seine Erzählung ließ die Umstände ihres Lebens vor mir Gestalt annehmen, so klar und direkt, als wäre ich dabei gewesen.
Mariemé war unerbittlich und Maymounas Erfolge gaben ihr recht.
Nach bestandener Eignungsprüfung für das Gymnasium ließ ihr Lehrer den Eltern ausrichten, dass es klug wäre, Maymouna ein Gymnasium in Dakar besuchen zu lassen, um sie auf ein mögliches Studium vorzubereiten.
„Frag deinen Marabout, ob er in Dakar eine Familie kennt, bei der Maymouna wohnen kann“, sagte Mariemé zu Moussa. Damit begann der erste große Streit im Haus Traoré. Er zog sich über den ganzen Sommer. Es regnete, der Saloum schwoll an, die Hitze drückte schwer und feucht und Moussa verlor Zentimeter um Zentimeter in der erbarmungslosen Schlacht gegen seine erste Frau. Als N'gone eines Abends stichelte, warum er, der Mann im Haus, nicht das letzte Wort über die Zukunft ihrer Kinder hatte, prügelte er sie, bis sie zu Mariemé floh. Die folgenden Wochen waren schwer. Das Geschäft ging schlecht, Präsident Diouf ließ jede Woche vorrechnen, wie die Auflagen der Weltbank erfüllt wurden und der ganze Senegal damit auf dem richtigen Weg war, aber der ganze Senegal litt unter den verordneten Maßnahmen gegen die Krise mehr,
als er je unter der Krise gelitten hatte. Moussa war Händler und gewohnt, dass das Geld rasch durch
seine Hände ging. In den guten Tagen hatte er verabsäumt, in Grundbesitz zu investieren. Jetzt war sein Marabout Herr über die Ländereien mit deren Erträgen Moussa handelte, aber diese Erträge waren nichts mehr wert. Und weil der Marabout sich selbst näher war, als der gläubige und strenge Moussa es je sein konnte, ging es dem Marabout leidlich und Moussa ging es schlecht. Er war noch immer wohlhabender als alle im Dorf, aber das Werk seines Lebens bröckelte unter seinen Händen weg, bevor er es an seinen starken Sohn Mamoussa hatte übergeben können. Moussa saß in seinem Haus und sein Groll verfinsterte sich zur Wut. N'gones Klagen hingen in seinen Ohren, Ouleymatous Geschrei, die sich schon wieder vom schwindenden Reichtum der Familie Traoré ausgeschlossen sah, hallte über die Ebene von Fatick bis Soum und Mariemés Kälte war in Verachtung umgeschlagen. Mariemé hatte Maymouna, seine Tochter, sein Fleisch und Blut, dieses Mädchen, in dessen Körper kein Tropfen ihres Blutes floss, zu einem Werkzeug gegen ihn gemacht.
Mochte der Handel schlecht gehen, mochten seine Gebete unerhört bleiben, aber die Herrschaft über sein Haus und die, die darin lebten, würde er nicht aufgeben. Er rief die Familie zusammen und tat seine Entscheidung kund:
„Maymouna wird nicht nach Dakar gehen.“
„So?“, fragte Mariemé. „N'gone hat dir eine intelligente Tochter geboren. Klug und stark genug, das Leben in deinem Dorf hinter sich zu lassen und in der Stadt all das Geld zu verdienen, das du verloren hast. Aber sie ist es dir nicht wert. N'gones Kind ist es dir nicht wert, eine Zukunft zu haben.“
N'gone wagte nicht, dieser Rede etwas hinzuzufügen, aber das Funkeln in ihren Augen machte Moussa klar: Die beiden Frauen in seinem Haus waren einig und gegen ihn. Er hatte verloren. Mariemé hatte er verloren, als er N'gone genommen hatte, und N'gone, als er sie geschlagen hatte wie ein Trunkenbold.
Maymouna saß im Kreis ihrer Familie und weinte. Sie war in die Grundschule geschickt worden und hatte gut gelernt. Sie war das einzige Kind aus ihrem Dorf, das die Oberschule besucht hatte und es war ihr schwer gefallen, die fremde Stadt, die fremden Kinder, die strengen Lehrer und das harte
Leben in Ouleymatous Haus zu ertragen. Aber sie hatte es getan, weil sie ihre Familie stolz machen wollte.
„Du bist ein Werkzeug, das gegen mich verwendet wird. Du kennst meinen Willen und gehorchst nicht. Du bist nicht länger meine Tochter.“
Die Sonne brannte auf den Saloum nieder und Aylin hatte unsere Piroge nach Mar Lodj gesteuert. Die Insel war von keinem nennenswerten Reiz, aber mitten in dem sumpfigen, brütenden Mangrovendschungel war sie das einzige begehbare Stückchen Land. Das hatte sie zu einem beliebten Ziel bei den Touristen gemacht, die bei FLAM Reisen einen Tagesausflug in den sehenswerten Sine Saloum gebucht hatten. Assane wehrte ohne ein Wort die Händlerinnen ab, die mit Körben, Puppen und Kalebassen auf uns zugerannt kamen, kaum dass sich der Bug unseres Bootes im Uferschlamm festgefahren hatte. Ich staunte. Die Frauen hier boten die gleichen Souvenirs an wie die Straßen- händler in Dakar. Offenbar gab es hier eine Souvenir-Mafia, ähnlich wie bei den Ausstattern von Chinarestaurants in Österreich.
Mariemé hatte über eine Verwandte von Yadikon gehört, die ihr Haus jungen Mädchen vom Land zur Verfügung stellte, um wenigstens einigen von ihnen das ewig gleiche Schicksal zu ersparen, in Dakar häuslichen Tyrannen oder weißen Pädophilen in die Hände zu fallen. Die Bildungspolitik des großen Senghor war gescheitert, Stipendien gab es kaum noch und Yadikon hatte ohne Aufregung beschlossen, das Wenige zu geben, das ihr zur Verfügung stand, und damit einigen der Zuwanderer ein geregeltes Leben und den Besuch einer Schule zu ermöglichen.
Von den Vielen, die nach Dakar kamen, weil es in ihren Dörfern, ob nun im Senegal, in Mali oder Gambia nichts mehr zu holen gab, waren die Kindermägde die Schutzlosesten. Die sozialen Strukturen in ihren Dörfern brachen zusammen, die Familien konnten keinen Rückhalt und keine Zukunft mehr bieten. Man hatte ihnen nichts beigebracht. Sie wussten nichts über ihre Körper, nichts darüber, wie man sich seine Gesundheit erhielt oder was eine angemessene Gegenleistung dafür war, auf einem Stück Karton schlafen und das Wenige essen zu dürfen, das ein armer Mann übrig lassen wollte. Ihnen bot Yadikon ihre Hilfe an, denn
Dakar war eine harte Stadt geworden. Die Illusion des ersten Präsidenten, Dakar zu einer westlichen Metropole zu machen, war geplatzt. Geblieben war eine Filiale für die Interessen der Mächtigen in Frankreich. Ihre Bewohner hatten den Glauben an ihren Aufstieg verloren und lebten in den Tag hinein. Täglich kamen mehr Menschen aus den Dörfern, die für den großen Senghor nie existiert zu haben schienen, und rund um das frankreichhörige Zentrum der Eliten entstanden Slums. Niemand dachte an den Stolz, ein weltoffener Schwarzer zu sein. In den Köpfen gärten Unzufriedenheit und Drogen, es gab keinen Zusammenhalt mehr. Wer etwas besaß, lief Gefahr, beraubt zu werden. Wer nichts hatte, konnte noch immer vergewaltigt werden.
Maymouna hatte die Kämpfe erlebt, die die Entscheidung ihres Vaters ausgelöst hatten. Tägliches Geschrei, der Spott des Dorfes – „Verstoßen, der reiche Moussa hat seine Tochter verstoßen! Was wird die wohl getan haben ...“ – die Tanten, Mariemés stille Qual, Maymouna all das anzutun, die Erniedrigung, eine Frau um Quartier zu bitten, die ihr Leben den Ärmsten widmen wollte. Aber Maymouna war arm genug.
Yadikon lobte sie für ihre Leistungen in der Schule und meinte, sie werde im Gymnasium gute Erfolge haben. Es freute sie, eine junge Frau im Haus zu haben, die vielleicht traurig und verwirrt war, aber nicht hoffnungslos. Meist verließen die Mädchen Yadikons Hafen nach einem Jahr oder früher, brachen die Schule ab, wurden schwanger und lebten als heulendes Elend an der Seite eines Taugenichts, der von Europa träumte und hier nichts anfassen wollte, weil es ihn nur hindern würde, käme nur endlich seine Chance.
Maymouna schien die Anlage zu haben, ihrer Helferin einmal eine Freude machen zu können. Vielleicht schaffte sie es bis auf die Universität. Vielleicht war sie das eine Kind aus den Fünfzig, die bei Yadikon gelebt hatten, das es schaffte, eine gebildete, qualifizierte Fachkraft zu werden und als Schwarze in Dakar gute Arbeit zu leisten. Das hätte Yadikon viel bedeutet, dafür wollte sie noch recht alt werden.
Ich goss mir eine Handvoll Wasser in den Nacken, beim Abwinkeln der Arme spannte meine Haut. Unsere Fahrt auf Aylins Piroge hatte mich mit der Kraft der subtropischen Sonne bekannt gemacht, die den ganzen Tag lang wie eine Herdplatte am Himmel gestanden war. Müde vom unablässigen Glitzern des Wassers, der dumpfen, feuchten Hitze und Assanes mäandernder Erzählung setzte ich mich auf mein Bett. Vor dem Fenster spiegelte sich der Mond im Saloum, im Hof erkannte ich im Gewirr der Stimmen Assanes unaufgeregten Tonfall – rund um das Begräbnis gab es wieder Komplikationen und Meinungsverschieden-
heiten.
Mit mir hatte Assane nicht mehr gesprochen, seit er seine Geschichte mit dem knappen Satz: „Auf die Universität hat sie es inzwischen geschafft – Yadikon ist sehr stolz“, beendet hatte. Falls er sein Schweigen als Aufforderung, Stellung zu nehmen, verstanden hatte wissen wollen, war ich ihr nicht nachgekommen. Er hätte mir einfach sagen können, dass ich Maymouna gefälligst in Ruhe lassen sollte, aber mir ihre Geschichte zu erzählen, hatte mich tief in ihre Angelegenheiten verstrickt. Kraus und verworren wie die Sumpflandschaft
um mich waren die Gedanken durch meinen Kopf gezogen und erst jetzt, lange nachdem ich das Boot und seine gleichförmigen Geräusche hinter mir gelassen hatte, begann sich das grüblerische Dickicht, in das ich geraten war, zu lichten. Assane liebte und bewunderte Senghor, aber er sah die Arbeit des Präsidenten als gescheitert an. Daran gab er nicht etwa der Weltbank die Schuld oder Abdou Diouf oder den Franzosen. Er gab die Schuld Senghor. Trotzdem bewunderte er ihn. Er bewunderte seine Vision, wie Schwarze leben könnten. Und er hatte mir klar gemacht, dass Maymouna im Begriff war, genauso zu leben, wie Yadikon und er und vielleicht auch Senghor selbst sich das vorgestellt hatten. Die drückende Enge der konservativen Tradition hinter sich lassen, die Werte dreier Welten kennen und wissen, dass keine der anderen überlegen war; die Wahl haben und sich das Beste nehmen, für ein neues Afrika. Und dann war ich gekommen und hatte auch ihr die Sehnsucht nach Europa ins Herz gerammt, die sie vielleicht hindern würde, als selbstbewusste Schwarze in Afrika zu leben und zu arbeiten, ohne in den Westen zu schielen und das, was man im Senegal erreichen konnte, für minder zu halten.
Vielleicht maß ich mir und meinem Begehren, meiner Liebe, auch eine unproportionale Rolle in Maymounas Leben zu, aber ich war erstmals in der Lage, mehr zu sehen, als nur ihre schwarze, duftende Haut.
Am nächsten Tag hatte Assane keine Zeit. Der Rat der Alten hatte beschlossen, trotz der ignoranten Haltung der Regierung und der väterlichen Senghor-Linie, die die Überstellung nach Joal oder Djilor nicht nachdrücklich genug forderte, dem Begräbnis in der Hauptstadt beizuwohnen. Es war für den 29.12. angesetzt worden, am 11. Februar wollte man zusätzlich eine traditionelle Trauerfeier in Djilor veranstalten und den Aufenthalt in Dakar dazu nutzen, zahlreiche Gäste aus der Hauptstadt zur Teilnahme daran zu verpflichten. Schließlich sollte die Sache staatstragenden Charakter haben.
Für mich hatte Assane Aylin abgestellt, der mir Djilor zeigen sollte: Senghors inoffiziellen Geburtsort.
Joal-Fadiout, der Ort, in dem Senghor als Kind gelebt hatte, reklamierte den Präsidenten zwar mit einem Museum und entsprechenden touristischen Rahmenprogrammen für sich, aber in der Familie der Mame Gnilane Bakhou, Senghors Mutter, waren alle einige, dass er in Djilor geboren worden war.
Es war ein eigenartiges Gefühl, alleine mit Maymounas Bruder unterwegs zu sein.
Leider sprach er fast ausschließlich Wolof, unser gemeinsames Französisch reichte gerade aus, um
uns über die Richtung zu verständigen, in die wir gehen sollten.
Für Aylin stellte unser Ausflug offenbar eine soziale Herausforderung dar. Er war vielleicht fünfzehn Jahre alt und konnte sich nicht entscheiden, ob er als cooler Guide lässig neben mir herschlendern oder wie ein junger Lausbub vor mir herhüpfen sollte. Also legte er den Weg zum französischen Viertel von Ndangane teils schlendernd, teils hüpfend zurück und ich trottete hinterher. Einmal blieb er stehen, wies auf das ausgebrannte Gerippe des Kleinbusses, das ich schon am Weihnachtsabend gesehen hatte, und meinte „Fichu.“ Er war ein großartiger Guide.
Vor einem der französischen Campements in „Ndangane Ville“ organisierte er eine Art Lastendroschke für unsere Weiterreise. Ich war wieder ganz Tourist und zahlte dem Fahrer sicher das Doppelte dessen, was Assane ausverhandelt hätte, aber es war mir egal. Ich wurde auf den albernen, einachsigen Wagen verladen, dessen Aufbau im Wesentlichen aus einem Brett bestand und der von einem unablässig furzenden, dürren Gaul gezogen wurde. Aylin sprang neben dem Fahrer auf, Kinder lachten und zeigten mit Fingern auf mich. Ich war froh, als wir das besiedelte Gebiet
hinter uns gelassen hatten. Wir rumpelten durch dichtes Buschwerk, vorbei an gelben Termitenhügeln, die sich aus dem fahlen, scharfen Savannengras erhoben. Etwas abseits des Weges standen einzelne Blätterhütten – „Peulh, Peulh!“ erklärte Aylin – und über uns spannte sich der Himmel wie eine Haube, unter der ich kräftig schwitzte.
Nach einer guten Stunde erreichten wir Djilor und Aylin führte mich durch ein Dorf von strohgedeckten Lehmhütten. Wie in Assanes Erzählung waren die kleinen Gärten mit knapp schulterhohen Zäunen begrenzt, als Zaunlatten dienten die getrockneten Blattschäfte der riesigen Runi-Palmen, deren Wipfel an vielen Stellen die stachelige Decke des niedrigen Buschwerks überragten.
Aylin schlenderte zum einzigen gemauerten Haus des Ortes und verkündete:
„Président Senghor – lieu de naissance – ici.“
Das Anwesen grenzte an der Vorderseite an den Dorfplatz, hinter dem Haus konnte man den Saloum erkennen. Aylin löste die Kette um das rostige Gartentor und wir schlüpften von der dörflichen Kargheit in das Gehege der Privilegierten.
Senghor schien von Anfang an ohne Wurzeln im ländlichen Leben aufgewachsen zu sein. Sein Elternhaus stand zwar mitten in Djilor, aber allein der Garten hatte in etwa dieselben Ausmaße wie der gesamte Dorfplatz und war mit einer übermannshohen Mauer vom Rest des Dorfes abgetrennt.
Während draußen die Dorfkinder Wasser schleppten, Hirse droschen und einander
prügelten, war der Garten offenbar ganz allein dem Toben des jungen Léopold Sédar vorbehalten gewesen. Entlang der repräsentativen Front des kolonialen Herrenhauses verlief eine Veranda, der die Bäume des Gartens Schatten spendeten. Ein einziges Zimmer in diesem Haus war vermutlich doppelt so groß wie jede der Hütten im Dorf. Das Luxuriöseste an der gesamten Anlage war jedoch, dass sie unbewohnt war. Aylin und ich gingen schweigend um den herrschaftlichen Bau herum, an der Rückseite gab es eine eigene Anlegestelle, die nur vom Grundstück der Senghors aus erreicht werden konnte. Ein solider Steg ragte gut zwanzig Meter in den Fluss, entlang der gemauerten Pier boten eingelassene Eisenringe Platz zum Vertäuen zahlreicher Pirogen, eine Laderampe fiel steil ins Wasser ab – alles hier erinnerte mich an das Haus in Ndangane, das den mütterlichen Senghors bis heute als Handelsstützpunkt diente.
„Vater Senghor ist Händler?“ fragte ich Aylin.
„Ja“, strahlte er, „Mein Vater Moussa – auch Händler.“
Vielleicht war Aylin in der Schule keine Leuchte, aber er hatte zweifellos ein erstaunliches Talent als Pantomime.
Anschaulich und nur von wenigen
radebrechenden Worten unterstützt, spielte er mir den Ablauf des Be- und Entladens schwerer Pirogen vor, wies in verschiedene Richtungen, von wo die Boote mit unterschiedlichen Waren kamen und ahmte spöttisch die zeternden Feilschereien der Händler mit den Schiffern nach. Vermutlich kannte er all das vom Handelsposten seines Vaters und war hier ganz in seinem Element. Ungeachtet des drückenden Mangels an gemeinsamen sprachlichen Mitteln wurde er zur informativen One-Man-Show und ich war sein dankbares Publikum.
„Pst“, sagte er schließlich und führte mich dem Wasser entlang bis zur Grenze des Grundstücks. Die Gartenmauer reichte bis ins flache Wasser, aber mit einem beherzten Satz konnte man den öffentlichen Strand von Djilor erreichen. Im Schatten eines großen Baumes, dessen Äste den Dorfplatz wie ein Zelt überdachten, liefen wir der Mauer entlang zurück zu unserer Droschke. Der Grund für Aylins Eile stand vielköpfig vor dem verschlossenen Eisentor des Senghor-Anwesens: Kinder, die bei meiner Ankunft aus der Schule getürmt waren, um mich anzuschnorren.
Aylin äffte ihren mitleidheischenden „Cadeau, Cadeau!“-Sing-Sang nach, sprang auf den Kutschbock und trieb den Fahrer zu größtmöglicher Eile an. Das Pferd furzte, ein Schwefelpfuhl auf vier dünnen Beinen, und wir waren bereits auf halbem Weg aus dem Dorf hinaus, als die Kinder merkten, dass wir im Begriff waren, ihnen zu entwischen. Schreiend rannten sie hinter dem Wagen her, Aylin brüllte irgendwelche Unfreundlichkeiten und wir wurden mit Grasbüscheln und Sand beworfen.
„Baal ma“, sagte ich, „wir können Cadeau geben. Menschen arm.“
Aylin sah mich an, seine Augen erinnerten mich an die von Maymouna.
„Waaw“, sagte er kühl, „Alle arm.“ Dann dachte er eine Weile nach und meinte: „Kinder dumm, faul! Haben Schule, nicht gehen! Weil Toubab-Xalis. Dumm!“
Er selbst hatte die Chance bekommen, sie aber nicht nutzen können und es ärgerte ihn offenbar, dass andere die Möglichkeit zu lernen so leichtfertig vergaben. Und wahrscheinlich hatte er recht. Warum sollte eines dieser Kinder jemals arbeiten wollen, wenn man nur einen Touristen fragen musste, um Geld zu bekommen? Ich hätte mich trotzdem wohler gefühlt in meiner weißen Haut, wenn ich den Kindern einfach ein paar hundert CFA spendiert und das Feld als netter Kerl geräumt hätte. So aber wetzte ich mir meine weiße Haut an den abgeschmierten Brettern unserer Fluchtdroschke wund, während wir mit unvernünftiger Geschwindigkeit über einen Karrenweg holperten und von wütenden Kindern mit Flüchen belegt wurden.
Im weiteren Verlauf unserer Ausfahrt stellte ich rasch fest, dass sengende Hitze ein wirksames Mittel gegen kulturell bedingtes, schlechtes Gewissen ist. Der Busch sirrte, aasfressende Bussarde zogen unendlich hoch am Himmel ihre Kreise und die Bäume am Horizont schienen in der blasigen Luft zu zerfließen. Die Sonne hatte mich in einen Klumpen gleichmütiger Apathie verwandelt und ich bedeckte meinen Kopf mit einem breiten Schal, den Aylin mir gereicht hatte. Nur mein verbläuter Hintern nahm wahr, als wir nach vielen, schmerzhaften Kilometern im Busch auf eine reguläre Straße auffuhren. Unser Kutscher plapperte ohne Unterbrechung, das Ross furzte und ich fragte mich, was wohl das Gute am Tourismus sein mochte. Was es auch war, ich konnte nicht viel davon spüren. Nach einer schwer schätzbaren Weile des Benommen-unter-der-Sonne-entlang-Gezogen-Werdens holte uns ein klappriges Auto ein und ich hörte Assanes Stimme.
„Alles ok?“, fragte er mich nach einigem aufgeregtem Palaver mit Aylin und dem Kutscher.
„Tangana!“, schnaufte ich entkräftet unter meinem Tuch hervor und nahm überrascht vielkehliges Gelächter zur Kenntnis.
Ich zog mir das Tuch vom Kopf und fand mich einem kleinen Lieferwagen gegenüber, der ein gutes Dutzend aufgedonnerter Landmädchen geladen hatte.
„Was ist denn jetzt?“
„Wir gehen nach Yayem zum Laamb. Kommst du mit?“
„Gibt es dort Schatten?“
„Das auch.“
„Gut, dann gern.“
Die Straße nach Yayem war nur für Eingeweihte als solche zu erkennen und unser Pick-up schaukelte bedächtig durch ein Meer aus Gras und Dornen. Ich war mit Assane, Aylin, dem Fahrer und einem etwa zehnjährigen Buben ins Führerhaus gepfercht worden und Assane erhellte die Hintergründe unseres Ausflugs. Yayem war von einer Familie gegründet worden, die Djilor aus Protest verlassen hatte, nachdem dem damals Fremden Basile Diogoye Senghor, dem Vater des späteren Präsidenten, ein großes Grundstück am Fluss verkauft worden war, das früher Animisten als Kultplatz gedient hatte. Auf diesem Grundstück stand bis heute das Anwesen der Senghors, das ich eben besichtigt hatte. Die alten Rivalitäten waren jedoch längst überwunden und heute fand die diesjährige, regionale Ringer-Meisterschaft in Yayem statt. Der Preis für den Sieger war eine Kuh und die Teilnahme an der überregionalen Runde, die in Dakar ausgetragen wurde.
„Und die Mädels sind die Cheerleaders für die Ndangane All Stars?“
„Das ist genau genommen er“, meinte Assane lächelnd und nickte in Richtung des kleinen Jungen. „Die Mädels sind gekommen, um sich einen prächtigen Kerl zu schnappen.“
Ich drehte mich um und sah mir unsere Wagenladung Grazien an. Mit einfachen Mitteln und einigem Improvisationstalent hatten sie den pompösen Stil der Roben und Turbane, die ich in Dakar gesehen hatte, imitiert und schnatterten aufgeregt durcheinander. Landpomeranzen am Weg in die Disco, hätte ich mir in der Steiermark gedacht.
„Im Ernst?“
„Ja klar“, meinte Assane. „Nur einer kann die Kuh gewinnen, aber eine Frau fasst dort bald einer aus.“
„Na, das muss mal eine Kuh sein.“
Assane lachte. Offensichtlich hatte er gute Laune.
„Gibt's was Neues wegen unserem Reisetermin?“
„Ach ja, genau. Sie wollen morgen früh losfahren.“
Das waren gute Neuigkeiten. Auch wenn alles viel komplizierter geworden war, freute ich mich, Maymouna wiederzusehen.
Zunächst war ich aber ganz zufrieden, dass ich ihr Herz gegebenenfalls nicht auf traditionell senegalesische Weise erringen musste. Sogar die Teilnehmer der Jugendkämpfe, die ihre Kräfte noch außer Konkurrenz zeigten, hätten mir ohne Mühe einen sauberen Knoten in jede meiner Gliedmaßen flechten können.
Das ganze Spektakel war vielfältig und fremdartig und ein französisches Ehepaar – die abgesehen von mir einzigen Touristen, die sich nach Yayem verirrt hatten – schien die Entscheidung, hierher gekommen zu sein, zu bereuen. Ich konnte sie verstehen. Ohne Assanes Schutzmantel hätte ich mich auch nicht sehr behaglich gefühlt. Nichts deutete darauf hin, dass Menschen, die mit dem Ereignis selbst nichts zu tun hatten, hier willkommen waren. Die Franzosen irrten um den Dorfplatz, für uns ließ ein sehr betriebsamer älterer Mann eine eigene Bank aufstellen. Er sprach mit respektvoller Miene einige Sätze mit Assane, aber dann wurde selbst der hohe Besuch aus dem Senghor-Clan von der Bedeutung der laufenden Ereignisse aus dem allgemeinen Bewusstsein Yayems verdrängt.
Mir war das nur recht. Meine an westlichen Sportveranstaltungen verweichlichten Wahr-
nehmungsgewohnheiten waren mit dieser Darbietung völlig überfordert. Alles passierte gleichzeitig, niemand kommentierte und es gab keinerlei Hinweise auf ein Ergebnis oder wenigstens einen absehbaren Höhepunkt wie etwa ein Finale oder so. Die einzige Konstante war ein Chor von sagenhaft dicken Frauen, die unter einem riesigen Baobab saßen und sangen. Um ihnen in dem enormen Durcheinander Gehör zu verschaffen, hatte man einen alten Bahnhofslautsprecher an einen der ausladenden Äste des Baumes gebunden, der ihren Gesang verstärkte. Der Sound war unvergleichlich. Der ganze Dorfplatz, über den sich die Äste des Baobab und der aus ihnen hervorplärrende Gesang breiteten, war bevölkert von ringenden Paaren, paradierenden Ringern und kleinen Buben, die die Habseligkeiten der Champs schleppten. Ich konnte nicht genau erkennen, was exakt die Entscheidung in den Kämpfen herbeiführte – manche Auseinandersetzungen dauerten einige Minuten lang und endeten, ohne dass für mich erkennbar wurde, wer weshalb gesiegt hatte, andere Kämpfe waren bereits nach wenigen Sekunden, dafür aber umso eindeutiger
entschieden,
da sich einer der Kontrahenten am Boden wand.
Die ganze Laamb-Schlacht stellte sich mir als durch- gehendes Getümmel dar, an dem zumindest achtzig Gliedmaßen gleichzeitig beteiligt waren.
"Schau“, sagte Assane und wies mich auf einen hünenhaften Kämpfer hin, der mit geschulterter Sporttasche den Dorfplatz betrat. „Das ist der Bruder von Papillon. Er hat die letzten beiden Ausscheidungen gewonnen.“
Bevor ich anerkennend „Viele Kühe“ sagen konnte, hatte Petit Papillon seine Tasche fallen lassen, war in die Knie gegangen und rammte ein halbmeterlanges Horn in den Boden. Anerkennendes Nicken umrahmte mein dummes Gesicht und Petit Papillon begann, verschiedene Flüssigkeiten, die er in Sportdrink-Flaschen mitgebracht hatte, über das Horn zu gießen. Anschließend zog er seinen Boubou aus und begoss auch sich selbst mit dem schmutzigen Wasser aus seinen Flaschen. Sein ganzer Körper war mit Gris Gris behängt, ein kleiner Junge reichte ihm eine Flasche nach der anderen und die rituelle Waschung zog sich über Minuten hin. Als er sich einmal umdrehte, bekam ich eine Ahnung, wieso man ihn und seinen Bruder „die Papillons“ nannte: Wenn er die Arme hob, formierten sich seine lateralen
Muskeln zu einem schmetterlingsförmigen Muster. Von Leichtigkeit allerdings keine Spur. Es sah eher so aus, als könnte Petit Papillon seine oder jede andere Kuh ohne Weiteres erwürgen.
„Was macht der da?“
Meine Frage hatte wohl etwas tonlos geklungen und Assane antwortete grinsend: „Alle Ringer bekommen von ihrem Dorf Talismane, heiliges Wasser und diverse Fetische, damit sie gewinnen. Es ist gut für das Ansehen eines Dorfes, den Champion zu stellen. Also legen alle zusammen und beauftragen beim Marabout einen starken Segen.“
Tatsächlich waren rund um den Dorfplatz auch andere Athleten, die eben erst angekommen waren, dabei, ähnliche Shows abzuziehen. Einer streute sich sogar Sand in die Hosen; eine wenig wünschenswerte Form des Zaubers.
Assane folgte meinem Blick und lachte. „Es ist wirklich sehr traditionell. Gefällt es dir?“
„Aus meiner Sicht ist es außerirdisch, aber ich finde es toll, hier dabei sein zu können.“
„So ging das schon lange vor Senghors Zeiten. Wenn du dir Laamb in Dakar ansiehst, ist das wie American Football im Vergleich. Aber pass mal auf die kleinen Jungs auf.“
Bisher hatte ich den Buben wenig Beachtung geschenkt. Sie schleppten die Taschen und Beutel ihrer großen Brüder, halfen ihnen bei den diversen Ritualen und bewachten die Fetische, während die Ringer herausfordernd um den Dorfplatz stolzierten, um sich und ihre Gegner auf den Kampf vorzubereiten. Die Aufmerksamkeit der Buben war jedoch ganz und gar nicht auf die Kämpfer gerichtet. Sie beobachteten die Mädchen. Und hin und wieder – beim kleinen Bruder von Petit Papillon kam das fast dauernd vor – kam eine der jungen Frauen wie zufällig vorbeigeschlendert und warf eine Kette, ein Tüchlein oder sonst eine Kleinigkeit in Richtung der Lagerstätte des von ihr auserwählten Ringers. Die Aufgabe der kleinen Brüder war nun, die Geschenke aufzusammeln und sich zu merken, was von wem stammte.
„Das hat ja ganz schön Methode.“
„Afrikanisches System“, grinste Assane.
„Und wie kommt man zu einer Frau, wenn man nicht Hulk Hogan ist?“
„Ich glaube, du weißt ganz gut, wie man eine Frau für sich gewinnt.“
Afrikanischer Humor.
Wenn es einen Ort gab, meine Sorgen, meine Hoffnungen und meine lächerliche Unsicherheit im Bezug auf Maymouna vor Assane auszubreiten, dann hatten wir ihn vermutlich erreicht.
„Was soll ich machen, Assane?“
„Was meinst du?“
„Ich denke, ich habe mich in Maymouna verliebt.“
„Was glaubst du, liebt sie dich auch?“
„Weiß nicht. Immerhin hat sie mich zum Abschied geküsst.“
„Geküsst?!“, rief Assane theatralisch. „Das ist schlimm! Du musst sofort gegen Petit Papillon kämpfen!“
„Was soll ich mit einer Kuh?“
Assane lachte. „Du liebe Zeit, hast du vorhin ernst geklungen.“
„Na ja, es ist mir auch ernst. Ich fürchte, ich könnte viel Schaden anrichten, wenn ich mich falsch verhalte.“
„Was meinst du wird passieren? Wenn sie dich liebt und du verarscht sie nur, wird sie unglücklich sein. Viele Mädchen sind unglücklich und du bist bestimmt auch schon unglücklich gewesen. Hat es dein Leben zerstört? Nein. Dakar ist eine Großstadt und Maymouna ist eine erwachsene Frau. Mach, was du für richtig hältst.“
„Das weiß ich eben nicht.“
„Dann ist das dein Problem.“
Knapp vor uns krachte ein gut neunzig Kilo schwerer Ringer auf den Boden, nachdem ihn Petit Papillon über die Schulter gewuchtet hatte wie einen Sack Mehl. Eilig sauste ein alter Mann herbei und spritzte mit einem nassen Zweig eine feuchte Linie auf den Boden. Offenbar gab es doch so etwas wie eine Spielfeldbegrenzung.
„Nur eins“, sagte Assane. „Überleg es dir, bevor du jemanden nach Europa einlädst.“
Am nächsten Morgen schmetterte mich noch vor Sonnenaufgang das blecherne Geleier des Muezzin aus dem Bett. Den Abend hatte ich mit Kopfschmerzen und schneidenden Magenkrämpfen in meinem Zimmer verbracht und gehofft, mir bei unserer Droschkenfahrt nur einen leichten Sonnenstich geholt zu haben. Unsere Reise mit bakteriellem Durchfall antreten zu müssen, hatte ich wenig Lust. Biir bu dow, laufender Bauch, sagte man hier zu dieser Geißel aller Reisenden, aber mein Magen hatte es glücklicherweise nicht mehr eilig. In meinen ersten zehn Lebensjahren habe ich meiner Großmutter sei Dank fast ausschließlich von Waldviertler Erdäpfelknödel gelebt, eine Kur, die meinen Magen gegen praktisch alles hat resistent werden lassen.
Der Himmel war grau, ich stand leicht benommen neben dem Wagen und ganz Ndangane war auf den Beinen. Wieder wurden zahllose Pakete aufgegeben, Gefälligkeiten erbeten und Ziegen aufs Dach geschnallt, aber mein Pajero blieb diesmal weitgehend verschont. Der war den Mague vorbehalten, den Ältesten der Familie. Zwei Frauen und vier Männer lösten sich aus dem Gewühl im Hof und schritten auf meinen Wagen zu. Die Frauen glitten wie Schiffe über den welligen Sand, aus dem Stoff ihrer Garderoben hätte man ein Zirkuszelt schneidern können. Assane eilte herbei und hielt die Wagentüre auf, damit die beiden ehrwürdigen Großmütter die hintere Sitzbank erklimmen konnten. Das Auto erwies sich als ungeeignet und bot Anlass zur Verärgerung, da die prachtvollen Türme aus Wickeltüchern, die auf den Köpfen der beiden schaukelten, keinen Platz unter dem Wagendach fanden. Assane rang buchstäblich um eine Lösung, indem er über die Lehne der zweiten Sitzreihe gebeugt die Kopfbedeckungen der alten Damen zu ordnen versuchte. Schließlich gelang es irgendwie, die beiden passend zu arrangieren, und die Väter des Clans waren an der Reihe. Ihre afrikanischen Hemden ließen sie trotz ihres Alters
heroisch erscheinen, krause weiße Bärte, asketische Mienen und gestickte Kappen verliehen ihnen ein Höchstmaß an Würde. Diounne war dabei und schenkte mir ein kurz bemessenes Lächeln, für einen seiner Begleiter schien sich erst jetzt, da er in Gestalt eines klimatisierten Geländewagens vor ihm stand, der Grund meiner Anwesenheit zu erhellen. Er betrachtete das Auto und ließ einen Redeschwall in meine Richtung los, den er offenbar bemüht war, freundlich klingen zu lassen. Ich lächelte, nickte und sagte, wann immer es mir passend erschien, „Jërajëf“ und „Oui, a Dakar!“
Als die vier Alten sich und ihre umfangreichen Roben auf der Sitzbank verstaut hatten, kletterte Assane auf den Beifahrersitz und meinte „Los geht's. Wir fahren vor.“
Ich reversierte und steuerte den Pajero durch das schmale Hoftor, vorbei an einem alten Peugeot Pick-up, auf dem sich sechzehn Personen drängten und einer Gruppe von weiteren sieben Verwandten, die versuchten, sich in einen alten Renault 12 zu drängen. Vor dem Tor war das halbe Dorf versammelt, Autos, die zum größten Teil aus Löchern zu bestehen schienen, wurden mit Menschen, Paketen, Hühnern und Ziegen beladen.
Mit modernem, fast erhabenem Knirschen gruben sich die Reifen unseres Geländewagens durch den flachen Sand und ich bedauerte jeden Teilnehmer unserer Prozession, der nicht bei mir hatte einsteigen dürfen. Es war erst halb zehn Uhr Früh und bereits blasenwerfend heiß. Selbst im klimatisierten, dichten und geräumigen Pajero klebte mir das T-Shirt am Rücken. Hinter mir saßen ungerührt die Alten, über der Reihe ihrer Kappen wogte der Kopfschmuck der Großmütter. Sie waren Familienoberhäupter der alten Schule, alle in vollem Ornat und keiner unter 60 Jahren. Zusammen waren also gut 360 Jahre afrikanischer Zeitgeschichte hinter mir versammelt. Ich rückte meinen Sitz einige Rasten vor, damit sie mehr Platz für ihre knochigen Knie hatten. Einer der Alten bellte Assane unwirsch ins Ohr und Assane ersuchte mich, die Klimaanlage abzudrehen. Die Großmütter fror.
Auf Diounnes Geheiß hatten wir die Straße über Joal genommen und im Gegensatz zum verzweigten Gewirr rinnsalartiger Schneisen, das uns hierher gebracht hatte, war diese vor langer Zeit einigermaßen ausgebaut worden. Für ihren heutigen Zustand hieß das nicht mehr, als dass sie ausschließlich aus Schlaglöchern und Umfahrungen von Schlaglöchern bestand. In alle Richtungen dehnte sich der spröde Steppenboden bis zum Horizont, bizarre, schwarze Affenbrotbäume, kahl, wie nach einem Waldbrand, ragten in den flirrenden Himmel. Borstige Grasbüschel wechselten mit nacktem, ockerfarbenem Lehm, Salzkrusten schimmerten weiß in der Sonne. Im Radio lief Youssou N'Dour, dann kamen Nachrichten.
„Jospin kommt, Chirac kommt nicht“, fasste Assane abschließend zusammen.
Im knatternden Gebell einer hitzigen Diskussion überquerten wir einen kleinen Bach, der Pajero schaukelte die Uferböschung hinauf und wir tauchten in eine völlig veränderte Landschaft ein. Die Straße war zu einem Pfad geworden, der sich durch mannshohes, dunkelgelbes Gras schlängelte,
Hecken aus Weidengeflecht parzellierten das Land, vereinzelt standen die strohgedeckten
Behelfsquartiere von Rinderhirten im dichten Gestrüpp. Der Weg war tief in den Boden eingeschnitten, an manchen Stellen ragte das Gras über uns wie ein Dach. Ich fuhr durch Afrika, auf meiner Rückbank die engste noch lebende Verwandtschaft des legendären ersten Präsidenten der unabhängigen Republik Senegal. Ich war nicht mehr auf Urlaub, ich war auf der Reise. Ich fühlte mich gut.
Auf ein unfreundliches Bellen des ehrwürdigen Diounne hin bat mich Assane anzuhalten und wir kletterten hinaus in die Hitze, um unseren Fahrgästen die Türen zu öffnen. Mit einem einzigen, schweißtreibenden Hieb machte mir die Sonne bewusst, weshalb es die meisten Europäer bevorzugten, ihre Erfahrungen mit Afrika über das Fernsehen zu machen. Mein T-Shirt klebte auf der Haut, meine Shorts waren zerknittert und eine Panier von rötlichem Staub überzog meine Beine. Die Alten hingegen glitten aus dem Wagen, trocken wie geschnitztes Ebenholz, die Boubous strahlend und faltenfrei. Bei 45 Grad Celsius erhaben zu wirken, ist eine Gabe.
Nach einigem Gemurmel schritten sie in Richtung eines krakeligen Baobab durch das hohe Gras davon, die Großmütter blieben im Wagen. Assane deutete mir zu folgen und ich grub mich hinter den Alten her durch den Busch. Dornen, Stacheln, Disteln, Kletten, scharfe Gräser und bissige Insekten zerfetzten meine Haut, jedes Stück Stoff an meinem Körper wurde zum Träger der trockenen, stacheligen Saat des Sahel. Vor mir teilten die Alten auf wundersame Weise das Dickicht, nur vereinzelt
schüttelte einer von ihnen ärgerlich den Saum
seiner Robe. Für sie hatten die Zweige keine Dornen, die Kletten und Disteln umschmeichelten ihre Fesseln und das borstige Gras wurde für sie zum sanften Rasen. Es war lächerlich, aber es war auch unerklärlich. Kein Stäubchen trübte die Pracht ihrer Hemden, als sie in nachdenklichem Kreis vor dem alten Baum Aufstellung nahmen. Ihre hoch aufragenden Gestalten bildeten eine Kathedrale, die Ehrfurcht gebietender nicht hätte sein können.
„Hier ist Basile Diogoye Senghor gestorben“, flüsterte Assane.
„Hier?“, fragte ich zurück. Außer Gras und Gestrüpp gab es nichts. Der Baum schien Teil einer unberührten Wildnis zu sein.
„Er war schwer krank und seine Familie hat versucht, ihn nach Joal ins Krankenhaus zu bringen. Unter diesem Baum hat sich die Mühe als vergeblich erwiesen.“
Ein Blick Diounnes brachte ihn zum Schweigen. Wir standen in der prallen Sonne, der Schweiß brannte auf meiner Stirn und jeder Tropfen Flüssigkeit in meinem Körper machte sich bereit, in die Weiten des Himmels zu verdampfen.
Trotzdem spürte ich durch den Schleier der Hitze eine Art Andächtigkeit, die von dem Schweigen der Alten ausgehend den
gesamten Busch erfasst hatte. Selbst als ein junger Peulh-Hirte einige dürre Rinder mit ausladenden Hörnern an unserer kleinen Gesellschaft vorbeitrieb, blieb die feierliche Stimmung erhalten. Der Hirte war vielleicht 14 Jahre alt, aber auch er erkannte die vier Erscheinungen unter dem Baum und grüßte mit respektvoll gesenktem Blick. Mich – blendend weiß, rotohrig, verschwitzt, zerbissen und zerkratzt, jedenfalls aber ein spöttisches Lächeln wert – schien er angesichts der überraschenden Prominenz nicht einmal wahrzunehmen. Offenbar waren die Alten, die ich aus einem winzigen Dorf am Ufer eines verträumten Flusses abgeholt hatte, tatsächlich höchst bedeutsame Personen, die jeder kannte, in ihrem Land.
Dakar schien nicht zu diesem Land zu gehören. Wir erreichten die Hauptstadt am frühen Nachmittag und im Angesicht des brüllenden Drecks, der verstopften Straßen und der Überbevölkerung sahen meine Fahrgäste einigermaßen alt aus.
Assane wollte mich in den Wahnsinn der Autoroute hetzen, aber ich umrundete Dakar von Norden her entlang der westlichen Küste.
Eine Entscheidung, die offenbar auch alle anderen Würdenträger getroffen hatten, die bereits heute nach Dakar gekommen waren. Alle paar hundert Meter mussten wir rechts ranfahren, um einer neuen Abordnung schwarzer Limousinen Platz zu machen, die mit getönten Scheiben und Polizeieskorte vom Flughafen nach Dakar rasten und nicht einmal darüber nachdachten, für irgendetwas zu bremsen.
„Die Autos sind alle leer, keiner der Staatsgäste ist heute schon hier“, fauchte Assane. „Die Fahrer machen sich einen Spaß und terrorisieren die Leute.“
Im Rückspiegel sah ich die Alten steif und ungerührt auf ihrer Bank sitzen, eine Reihe dahinter drückten sich die Großmütter die Nasen an der Scheibe platt.
Es schien mir absurd, dass ich mich an das Tosen
von Dakar bereits gewöhnt hatte, während sie es offenbar zum ersten Mal sahen.
„Es ist nicht leicht für sie“, meinte Assane. „Du hast es erlebt. Am Land sind sie alles und sie schimpfen über Dakar und seine Sitten. Aber hier kennt sie niemand. Sie sind nur Leute vom Land.“
Wir folgten dem Verlauf der Route de la Corniche Ouest bis weit in den Süden, bogen bei der Avenue Nelson Mandela ab und tauchten in das noble Botschaftsviertel von Dakar ein. Der Preis pro Quadratmeter lag hier vermutlich höher als irgendwo in Wien, dichte, gepflegte Hecken gaben nur bruchstückhaft den Blick auf Prachtbauten von mediterraner Leichtigkeit frei, über jedem der schmiedeeisernen Hochsicherheitstore wehte die Fahne eines der europäischen Partnerländer der Republik Senegal. Nahe der weitläufigen Anlage des Hôpital Principal, dessen medizinisches Angebot Wohlhabenden und Staatsbediensteten vorbehalten war, befand sich das Haus von Adrienne Senghor, dem Präsidenten der über 1000-köpfigen Familie. Vermutlich waren noch nicht alle 1000 anwesend, trotzdem konnten wir nicht zum Haus zufahren, da die Transportmittel der Senghor-Familie den gesamten verfügbaren Platz bereits zugeparkt hatten; unser Pajero fiel in diesem Fuhrpark jedenfalls nicht als übertrieben gediegen auf. Ohne viele Worte zu verlieren, stiegen die Oberhäupter des mütterlichen Clans aus, die letzten fünfhundert Meter konnten sie genauso gut zu Fuß gehen. Assane bat mich zu warten.
Er wollte nur rasch für Yadikon und seine engeren Angehörigen die Senghor-Famille-Plaketten besorgen, die bei offiziellen Anlässen an die Familienmitglieder ausgegeben wurden.
Ich saß im Wagen, ließ die Klimaanlage laufen und sehnte mich nach der Medina. Links und recht der Straße säumten üppig bewässerte Hecken die Grundstücke, die Straße selbst war ein Meer aus schwarz funkelnden Autodächern. Repräsentation war hier alles. Hinter mir traf ein Geschwader schwarzer Mercedes ein, einige Würdenträger stiegen aus und begannen, den Panzer geparkter Autos zu beschimpfen, der ihnen die Zufahrt zum Haus, dem Herzen des Senghor Clans, versperrte. Ich setzte mit meinem Pajero ein Stück zurück, reversierte und verließ die verstopfte Arterie, die dieses Herz mit dem Blut seiner Familie versorgen sollte. Assane würde mich auch in einem benachbarten Straßenzug finden.
Knappe drei Stunden später waren wir am Weg nach Hause. Assane und ein Bediensteter hatten schließlich das bisschen Gepäck der Mague aus dem Wagen geholt, für alles Weitere würde Adrienne sorgen lassen. Assane war schweigsam, offenbar hatte ihm das prunksüchtige Gehabe seiner Familie auch nicht besonders gefallen.
„Ich freue mich auf Yadikon“, sagte er, als die Grande Mosquée und Soumbedioune in Sicht kamen.
„Ich auch.“
Assane lächelte.
Yadikon lächelte nicht. Hinter ihr standen zwei hässliche alte Frauen und ein offenbar betrunkener Mann, die mich mit glühenden Augen fixierten. Yadikon hatte kaum mit einer sehr betrübten Version der Begrüßungshöflichkeiten begonnen, als sich die drei von der Terrasse aus in Bewegung setzten und wie eine Gewitterwolke auf uns zu walzten. Ich hatte zunächst an irgendwelche familieninterne Schwierigkeiten gedacht – vielleicht hatten Assane und ich eine der Ziegen bei einer falschen Adresse abgeliefert – aber die Sache betraf offenbar mich. Eine der beiden Frauen, ein rüdes Monster mit platter Nase und hässlicher Haut, drängte mich keifend und gestikulierend in eine Ecke neben der Küche, die flatternden Bahnen ihres Kleides ließen sie riesenhaft und unentrinnbar erscheinen. Ein Rotfeuerfisch mochte auf seine Beute einen ähnlichen Eindruck machen. Der Teint der giftigen Frau war fleckig, an einigen Stellen sah die Haut vernarbt aus, als wäre sie verätzt worden, violette und rötliche Quaddeln entstellten ihr feistes
Gesicht. Ich verstand kein Wort von ihrem Gekeife, sie riss an meinem T-Shirt, schrie und spuckte, ihre Begleiterin, eine um nichts weniger erschreckende Erscheinung, assistierte mit schriller Stimme und im Hintergrund schlingerten die gelb und rot unterlaufenen Augen des Säufers, der mich mit seinem kellertiefen Bass in schleppendem Französisch als ehrloses Schwein bezeichnete.
Ich war völlig überrumpelt. Ich wurde gestoßen, in fremden Sprachen beschimpft, verrückte Weiber zerrten an meinen Kleidern und Assane war nirgends zu sehen. Die dornigen Arme einer Grünpflanze nahmen mich bereitwillig auf, die afrikanischen Furien setzten mir weiter zu und ich hatte keine Ahnung, worum es hier gehen mochte. Bis ich zwei Worte verstand. Das erste war „Xalis“, Geld, und das zweite war „Maymouna“.
Assane hatte sich genau diesen Zeitpunkt ausgesucht, um zu meiner Rettung zu erscheinen. Er glitt in einem Nebel schmierig beruhigender Worte heran und begann, meinen Gegnern Geldscheine zuzustecken. Ich war nicht ganz bei der Sache, aber wie es aussah, verschwanden rund 200.000 CFA in den Falten der feindlichen Ge- wänder, bevor sich der Belagerungsring um mich löste.
Jetzt, da sich Assane als kompetenter Gesprächspartner eingebracht hatte, war ich scheinbar nicht weiter von Interesse und die Diskussion wogte zwischen den beiden Furien, dem Säufer und Assane hin und her wie eine Verhandlung am Sandaga Market, deren Gegenstand der Preis eines Wandteppichs war.
Ich war benommen. Yadikon stand betrübt auf der Terrasse und ich löste mich aus der Umarmung ihrer Hofbegrünung.
„Was zum Teufel bilden sich diese verdammten Arschlöcher hier eigentlich ein!?“
„Ruhig. Ich erklär's dir später.“
Soweit mein Anteil an den laufenden Gesprächen. Für den Rest der Verhandlungen stand ich einfach da, hin und wieder wurde auf mich gezeigt und nach der Übergabe weiterer 100.000 CFA zog die Truppe ab. Assane sah betreten zu Boden, Yadikon ging ins Haus.
„Was war das denn?“
„Ouleymatou Bâ, ihre Schwester und ihr Mann. Sie wollen, dass du Maymouna heiratest, weil du sie geschändet hast.“
„Ja, natürlich. Und das Geld?“
„Ein Art Anzahlung auf die Geschenke, die sie zur Hochzeit erwarten.“
„Scheiße.“
Assane ging ins Haus, goss sich einen Becher Don Garcia ein und kippte ihn hinunter.
„Ich werde dich nach Saly bringen. Dort bleibst du, bis dein Flug geht, und das war's dann.“
„Hör mal zu. Wir sollten uns von diesen verrückten Furien nicht unter Druck setzen lassen. Maymouna hat mich geküsst und ich mag sie gerne, aber ich werde nicht vor ihren Verwandten fliehen. Wo ist sie überhaupt?“
„Ouleymatou hat sie nach Fatick bringen lassen.“
„Scheiße.“
„Ja, Scheiße. Yadikon ist verzweifelt.“
„Wir holen Maymouna aus diesem Kaff ab und bringen sie zurück. Dafür wird man uns ja nicht gleich lynchen.“
„Um Maymouna mach dir mal keine Sorgen. Wenn Ouleymatou merkt, dass du nicht mehr im Lande bist, wird sie das Interesse an ihrer Nichte von ganz allein verlieren und sie wieder hierher schicken.“
„Vielleicht solltest du das dann auch Yadikon sagen.“
Assane lächelte schwach. „Yadikon weiß das. Aber Ouleymatou hat jedermann darüber in Kenntnis gesetzt, dass ihre geliebte Nichte Maymouna in Yadikons Haus von einem weißen Grobian
geschändet wurde, der sich dort der Gastfreundschaft der Senghors erfreut. Das sind Dinge, die eine alte, gläubige Frau nicht gerne über ihr Haus hört.“
„Aber es sind Lügen!“
„Und jeder hört sie gerne. So ist das eben.“
„Wie viel hast du diesen Schweinen bezahlt?“
„300.000.“
Ich griff in meinen Geldgürtel und gab Assane aus meiner eisernen Reserve das Geld zurück. „Hier. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist es für Yadikons Ansehen das Beste, wenn ich verschwinde.“
„Ich fürchte ja.“
„Wahnsinn. Darf ich mich von ihr verabschieden?“
„Sicher. Sie mag dich. Schließlich weiß sie, dass es nur Lügen sind.“
Als ich Yadikon in ihrem Zimmer sitzen sah, war ich knapp dran zu heulen. Sie besaß einen Kühlschrank, einen Fernseher, ein Bord mit Büchern, einen wackeligen Esstisch mit drei Sesseln, eine Sofagarnitur und einen dazu passenden Ohrenfauteuil. An der Wand hing ein Bild von Papst Johannes Paul II und eines, das die Gottesmutter Maria im hellen Strahlenkranz zeigte. Darunter saß Yadikon und sah mit traurigen Augen zu mir auf.
„Nang ma baal“, stammelte ich und „Au revoir.“
„Auf Wiedersehen“, sagte Yadikon auf Deutsch. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Es tut mir auch leid.“