Über mir brummte ein Ventilator. Weiches Morgenlicht sickerte durch schwere, bodenlange Vorhänge, die Luft roch frisch und kühl. Ich drehte mich zur Seite. Das gestärkte Laken rieb ein Gefühl von Strenge und Ordnung in meine Haut, das mir gefehlt hatte. Ich hatte einen Teil meiner Welt zurückerobert. Zu erwachen bedeutete hier mehr, als bloß am Beginn eines weiteren Tages voller Ungewissheiten zu stehen. Zu erwachen hieß hier, im Einklang mit sich selbst in eine Welt zu starten, deren Zweck es war, mir angenehm zu sein. Die mein Bett jeden Abend wieder in einen Zustand gebracht haben würde, der ein weiteres Erwachen im Einklang mit mir selbst ermöglichte, gebettet auf höflich wispernde Laken. Alles was ich zu tun hatte, war genießen.
Ich stemmte meine Füße aus dem Bett, die terrakottafarbigen Kacheln waren kalt, aber meine rissigen Ballen spürten sofort: kein Sand. Nichts knirschte, nichts rieb, nichts fand seinen Weg zwischen die Zehen, wo die Haut am dünnsten ist. Der Boden war kahl und glatt und passte farblich hervorragend zu der lichtgelben Wand. Meine Tasche stand vor einem gemauerten Wandschrank, ein dezenter rotbrauner Vorhang mit afrikanischen
Ornamenten in Beige nahm mir die Sicht auf das Chaos meiner schmutzigen Wäsche, die ich gestern Nacht achtlos in eines der Kastenfächer gestopft hatte. Im Bad waren die Fliesen sauber verlegt, kein Schimmel, kein blätternder Putz; hier Kacheln – das war der Boden, da Fliesen mit Musterzeile – das war die Wand. Das Wasser schoss aus dem Brausekopf, als wäre das seine einzige Bestimmung, die Temperatur war auf das Grad genau wählbar. Ich war im Saly Hotel und genoss es.
Assane hatte mir die Adresse eines Freundes gegeben, bei dem ich hätte übernachten können, aber als ich in Saly Portudal angekommen war – St. Tropez des Senegal und touristisches Zentrum der petite côte, wie überall zu lesen stand –, war es bereits stockfinstere Nacht gewesen und das Saly Hotel mit seiner Beleuchtung hatte mich angezogen wie ein automatisches Landeleitsystem: „Hier sind Sie willkommen! Gastfreundschaft, Unterhaltung und westliche Standards.“
Oh ja, genau das wollte ich.
Frisch geduscht, frottiert mit zwei der sauberen, duftenden Badetücher mit Hotelemblem und auf Hochglanz poliert mit rasch einziehender Sonnenmilch schritt ich zum petit déjeuner. Ein Glas Orangensaft extra kostete genau so viel wie in der Karte stand, die englische Zeitung ebenfalls, keine Überraschungen, kein Verhandeln, es war teuer, aber sofort da. Und keine Diskussionen. Im Swimmingpool war eine Gruppe belgischer Mädchen und Frauen bei der Wassergymnastik, etwas weiter hinten, halb verdeckt von sauber eingetopften Palmen und reizend dekorierten Sonnenschirmen, schimmerte türkisgrün der Ozean. Überall am Weg freundliche Stimmen – „Bonjour, Monsieur“, „Everything ok, Monsieur?“ –, kein knatterndes Wolof, kein heiseres Brüllen und Feilschen, aus versteckten Lautsprechern rieselte schwüle Fahrstuhlmusik.
„Herzlich willkommen, Monsieur. Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?“
„Ja, danke, alles gut.“
„Sprechen Sie englisch, Monsieur?“
„Ja, besser.“
„Deutsch?“
„Ja, ich spreche deutsch.“
„Ah, willkommen, mein Herr!“
„Dankeschön.“
„Ich bin Maurice, darf ich Ihn zeigen das Unterhaltsmöglichkeit im Saly?“
„Gerne.“
Maurice war ein sportiver Schwarzer in einer hübschen Uniform und überreichte mir eine Art Preisliste.
„Sie kann lesen ruhig. Wenn sie mochten, Sie geben ab die gefüllte Form bei Reception mit Kreuz bei Ihr Wunsch.“
„Gut, danke. Ich überlege es mir.“
„Merci, Monsieur. Ein schon Tag!“
„Danke, ebenfalls.“
Maurice zog weiter seine Kreis auf der Frühstücks- terrasse, während ich mir die „Unterhaltsmöglichkeit“ ansah, die Saly mir bot.
Ich war ehrlich überrascht. Das Geringste auf der Liste war eine Katamaranfahrt mit dem Team von Capitaine Jean, gefolgt von Quad-Ausflügen, umfangreichen Golfangeboten bis hin zu Helikopterflügen und Fallschirmsprungkursen. Um in den Genuss einer Hochseefischfahrt zu kommen, musste man sich eigens an die Rezeption wenden. Zweifellos hätte mein Frühstück interessant auf einen Tandemsprung mit Captain Jack 2000 Meter über dem aerodrom parachutisme von Saly reagiert, aber ich beschloss, die Sache ruhig anzugehen und mich gemächlich mit meiner Umgebung vertraut zu machen. Vielleicht kam ich ja doch noch zu einigen geruhsamen Urlaubstagen.
Saly schien dafür jedenfalls bestens geeignet. Die großzügige Anlage meines Saly Hotel war über schattige, palmengesäumte Wege mit den Freizeiteinrichtungen anderer Hotels verbunden, ein kleiner Spaziergang führte mich durch eine Art touristisches Dorf, das zurückhaltend in das gepflegte Grün einer alles verbindenden Parkanlage gebettet war. Nach meinen Begegnungen mit dem stachligen, rauen und ungeordneten Sahel war dieses Ferienparadies von fast aufdringlicher Lieblichkeit, die gediegenen Arrangements aus geschlungenen Kieswegen, saftigen Hecken und Beeten, Palmenhainen und bezaubernden folkloristischen Bungalowhütten schmiegten sich an mein vages Bedürfnis nach harmonischer Hula- Hula-Exotik, das offenbar in jedem europäischen Touristen schlummert. Mit einer gewissen Erleichterung nahm ich zur Kenntnis, dass der Großteil der anderen Feriengäste ebenfalls schlummerte und fand das hiesige Village Artisanal fast leer vor. Es war adrett um einen Platz angelegt, der das infrastrukturelle Zentrum des Hotelver- bundes von Saly bildete. Es gab ein Internetcafé, kleine Bars und eine Menge sehr hübscher Geschäfte, die mit Strohdächern gedeckt waren.
Vor den meisten der kleinen Verkaufslokale waren Grünpflanzen arrangiert, die Ware – meist Stoffe, Kleider, Skulpturen oder Spielzeuginstrumente – waren vor und in den Geschäften drapiert, freundlich lächelnde Verkäufer übten keinerlei Druck auf die Passanten aus, kein „Come, see me shop“, kein „Kaufen Sie sehr antike Masken – nur 40.000 CFA!“, kein Drängen, kein Stoßen, kein Zerren und Schimpfen. Das hier war beglückend künstlich. Es war etwa so wie ein Film über den tropischen Amazonas, in dem man die Myriaden von Mücken nicht ahnte, nicht spürte, wie man mit jedem Atemzug die zähe, feuchte, ungesunde Hitze inhalierte und niemals zu Gesicht bekam, was alles faulig im Schlamm der Ufer des majestätischen Stroms dümpelte. Ich machte mich auf den Weg zum Strand.
Ein Fußweg aus Steinplatten, gesäumt von üppigen Beeten und in Naturstein gefasst, führte an einem der Pools vorbei hinunter zum Meer. Eine kleine gemauerte Schwelle trennte das Hotelrestaurant vom Hotelstrand und bildete ein Bollwerk gegen das stete Rieseln und Wehen des Sandes. Aber selbst der Sand war weicher und gepflegter als sonst wo im Senegal. Fast so, als hätte man ihn fürsorglich gesiebt. Keine Fischinnereien, keine aufgedunsenen Ziegenkadaver, nur anmutige Franzosen und Belgier, die Beachvolleyball spielten, ihre massigen Leiber in Neoprenanzüge zwängten oder einfach in der morgendlichen Sonne brieten. Ich wählte eine etwas abseits gelegene Strandliege unter einem folkloristisch anmutenden Sonnendach aus Bast. Als kleiner Bub hatte ich mir die Röckchen der Negerkinder in Afrika so vorgestellt, für die wir in der Kirche spendeten und derentwegen wir auch vom Spinat nichts überlassen durften. Dieses Röckchen war eben für ein fantastisch fettes Kind gemacht worden und diente jetzt als Sonnenschirm.
Und unter diesem Sonnenschirm lag ich. Allein, ausgestoßen, der Küsserkönig unter den Sextouristen. Gestern im Auto hatte ich überlegt, ob ich eventuell hereingelegt worden war; einem abgekarteten Spiel aufgesessen: Maymouna bezirzt mich, Assane inszeniert einen Überfall entrüsteter Verwandter und schon ist der freiersfüßige Toubab 300.000 CFA los. Vielleicht war es aber auch so, dass ich tatsächlich den Ruf einer hilfsbereiten und lebensfrohen alten Frau ruiniert hatte, die nichts wollte, als armen Mädchen vom Land eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Oder es war einfach so, dass sich ein paar bigotte Tanten mit einem taktisch brillanten Manöver an einem Zufall bereichert hatten. Je länger ich durch die dunkle Savanne gefahren war, desto weniger wusste ich, was in diesen Tagen wirklich gelaufen war. Nach etwa zwei Stunden Fahrt war mir dann klar geworden, dass ich mich verfahren haben musste, und meine gesamte Aufmerksamkeit hatte sich dankbar auf die Aufgabe gestürzt, den Ort Saly Portudal zu finden.
Und da war ich jetzt. Ein Urlauber, der sein letztes Geld ausgab, um im Schatten eines Baströckchens das Leben in Afrika zu genießen.
Unterm Strich sah es so aus, dass ich einen sehr beglückenden Kuss erhalten und meine Silberlinge bezahlt hatte. Die Geschichte war aus. Egal ob mir oder Assane oder Maymouna das gefiel. Das afrikanische Tantensystem war keine sehr sensible Sache, aber es war effektiv: Maymouna gerettet, Toubab vergrault, Kohle eingesackt.
Das Meer plätscherte kinderfreundlich an den säuberlich geharkten Strand.
„Is deze stoel nog vrji?“
Ich sah nachdenklich auf und nahm mit Schrecken zur Kenntnis, dass eine vierköpfige Familie neben meiner Strandliege Aufstellung genommen hatte. Die Vier sahen aus wie blanchierte Tomaten mit Stroh oben drauf. Es waren Holländer.
„Ja, sicher“, sagte ich und die Muttertomate fragte mich in bestem Rudi-Carell-Deutsch, ob ich eventuell eine Liege weiterrücken könnte, dann wären nämlich vier nebeneinander frei und da sie eben vier waren ... Ich sah mir die nächste Liege an und fand, dass die um nichts schlechter war als meine derzeitige. Also willigte ich ein. Die ganze Familie war mir richtig dankbar und schon fand ich mich in ein Gespräch verwickelt wieder. Zum dritten Mal war man schon hier und – also wirklich – so zufrieden konnte man kaum wo sein. Einzig Deutsche gab es sonst eher wenige hier.
„Das ist bestimmt kein Nachteil. Ich bin Österreicher.“
Ha, da wurde gelacht.
„Ja, ja“, meinte Vatertomate, „unter Nachbarn piesackt man sich doch am besten."
Der Sohn der Familie wurde einem Surflehrer anvertraut und stellte sich so ungeschickt an, wie
sonst nur Holländerinnen beim Skifahren, die ihrem Skilehrer schon auf der Piste zeigen wollten, wie gut sie das mit dem Hinlegen draufhatten.
„Sind Sie schon länger hier?“
Der Körperbau der Muttertomate hatte etwas protestantisch Funktionales und ich war froh, dass sie sich des starken Sonnenbrandes wegen ein T-Shirt anzog. Als sie zu diesem Zweck ihren Sonnenhut abnahm, sah ich, dass sie sich Rastazöpfchen hatte flechten lassen.
„Nein. Ich bin gestern angekommen.“
„Ah, willkommen.“
Ihrem Mann war die Zöpfchengeschichte scheinbar auch ein wenig peinlich. Ich konnte mir vorstellen, wie sie ihn gefragt hatte, ob ihr der Afrika-Look stehe, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass es darauf eine Antwort hätte geben sollen, die nicht „Du siehst vollkommen bescheuert aus“ lautete. Aber alles ist auch ein Arrangement.
„Danke.“
„Also wirklich, ich sage Ihnen, Senegal wird international unterschätzt. Das ist ein sehr fortschrittliches Land. Industrie, sehr offen, stabil und ehrlich gesagt, diese petite côte hier, das ist ein touristisches Kapital. In wenigen Jahren wird man
hier keine Zimmer mehr bekommen.“
„Vielleicht gibt's dann ja Buchungsvorteile für Stammkunden. Kundenbindungsprogramm und so.“
Der gezirkelt runde Bauch des Holländers wackelte. „Na ja, soweit sind sie auch noch nicht“, lachte er.
„Aber immerhin, sie sind bei der WM.“
Die Holländernase wurde ziemlich lang und ich setzte versöhnlich hinzu: „Na ja, wir sind ja auch nicht dabei ...“
Fußball ist als Thema zum Piesacken großartig geeignet und was wie ein Wort des Trostes klang, war eine prächtige Insultation des traditionsreichen holländischen Fußballs. Folgerichtig bekam ich es wieder mit der Frau zu tun.
„Ist das ihr erster Aufenthalt in Afrika?“
„Ja.“
„Wirklich? Da würde mich schon interessieren, wie man das in Österreich einschätzt. Wie wir das erste Mal hier hergekommen sind, haben die Leute schon gesagt: ‚Ist das nicht riskant?’ Auch wegen der Kinder, ja. Aber wir haben Freunde in Frankreich und die haben uns das so empfohlen hier. Und ehrlich gesagt, es ist ja schon großartig. Und sehr gut organisiert.“
„Was?“
„Ja, das Leben hier! Man kann überall hingehen, es gibt Banken, den Tierpark, sogar einen Supermarkt – und alles ist so übersichtlich.“
„Das ist gut, ich suche hier nämlich jemanden“, sagte ich und kramte den Zettel aus der Tasche, auf den Assane mir die Adresse seines Freundes geschrieben hatte. Die Augen der Holländer waren ein bisschen schmal geworden. „Kennen Sie das: Papiz Koné c/o Chez L'Homme Tranquille, Safari Village/ Saly?“
Die Tochter sah mich neugierig an.
„Safari Village“, meinte der Holländer, „Ja, das habe ich mal auf der Karte gesehen – habe es mit dem Tierpark verwechselt, hehe. Das liegt aber außerhalb des eigentlichen Saly.“
„Ist es weit?“
„Nein, nein, das nicht.“
„Ist es im Dorf?“, fragte die Tochtertomate dazwischen.
„Ja, ich glaube ...“
„Gibt es da ein Problem?“
„Nein, wenn Sie da jemanden kennen, bestimmt nicht! Aber im Allgemeinen empfiehlt die Hotelleitung, das Village Indigène eher zu meiden.“
„Das Village Indigène?“
„Na ja, eine Siedlung von Schwarzen, die der Hotels wegen hier hergezogen sind.“
„Und, na ja, Sie wissen ja. Dort gibt es dann schon Probleme mit Diebstahl und diese ständige Bettelei und man weiß ja auch gar nicht, was die einem dann alles verkaufen wollen ...“
„Ich meine, die Leute hier profitieren ohnehin vom Tourismus, da ist dann so ein Verhalten schon ein bisschen unangebracht, ja. Immerhin wir sind mit den Kindern hier.“
„Wissen Sie, ich habe schon Verständnis für die Probleme und die meisten Leute hier sind wirklich sehr nett, aber als Weißer hat man schon oft das Gefühl, dass man nur als Geldgeber gesehen wird. So eine Woche zu viert kostet an sich schon ganz ordentlich.“
Die beiden waren voll in Fahrt. Ich hatte mich erhoben und war gegen alle vernünftigen Argumente unterwegs ins Village Indigène.
„Sollen wir Ihnen die Liege freihalten ...!“, rief mir die Frau noch nach.
Der Strand war weiß, das konnte man sagen. Die Surfbretter waren weiß, die Jetski waren weiß, die Yachten waren weiß, die Kieswege unter den Palmengärten waren weiß, sogar der Sand war weiß. Grell weiß. Selbstverständlich war jeder einzelne Badegast weiß. Das einzig Schwarze waren die Kellner, die frühe Drinks oder späte petit déjeuners an die Liegen servierten. Saly Hotel Ville lag in einer schönen Bucht, 40 Meter breiter Sandstrand, üppige subtropische Vegetation, es gab keine vielstöckigen Hotelburgen, die weitläufigen Bungalowanlagen verschmolzen praktisch mit den schattigen Gärten, die man für ihre Gäste angelegt hatte. Touristisches Kapital ganz offensichtlich. Vor einem der größeren Hotels ragte ein massiver Holzsteg in Wasser, das Centre de Pêche Sportive. Von hier aus stachen die Yachten der Hochseefischer in See.
Ich schlenderte daran vorbei und wie zufällig kam ein uniformierter Schwarzer auf mich zu.
„Bonjour, Monsieur“, meinte er freundlich, „kann ich Ihnen behilflich sein?“
Auf seiner Epaulette stand A.S.A.
„Ich möchte nach Safari Village.“
„Das ist weit von hier.“
„Kein Problem, ich viel Zeit.“
„Aber Sie verlassen Saly Hotel Ville, Monsieur.“
„Ja.“
Er begleitete mich noch einige Schritte, dann kehrte er kopfschüttelnd um. Der Sand war plötzlich nicht mehr so weiß. Ziegenmist, Fischdärme, Asche, Plastiksäckchen, Schnurfasern und allerlei Treibgut sprenkelten den Boden, keine üppigen Grünanlagen säumten hier den Strand, gefällige Bungalows gab es auch nicht mehr. Ich schritt jetzt eine Art Dorf entlang, dem Village Indigène vermutlich. Eine Sandstraße verlief vom Strand aus durch einen bunten Haufen unterschiedlich ansehnlicher Häuser, einige Boote waren an Land gezogen worden und – ähnlich wie in Soumbedioune – diente der Strand weniger als Erholungsraum, denn als betriebsames Zentrum des Lebens. Fische wurden verkauft, Ziegen rupften an den Strohmatten der Zäune, hie und da stählte ein Bursche mit Liegestützen seine muskulösen Schultern und überall saßen Griots und spielten auf ihren Trommeln. Das Ganze wäre recht idyllisch gewesen, hätten mich nicht ein gutes Dutzend Menschen gedrängt, entweder in ihr Restaurant zu kommen oder ihren Shop zu besuchen oder sofort einen Ballen
Stoff zu kaufen oder wenigsten eine sehr antike Statue oder – ey, pst, pst – einen Sackvoll Gras. Die Augen der meisten Leute waren trüb, sie sahen durch mich hindurch und beteten mir monoton ihre Angebote vor. Ich hatte nicht den Eindruck, dass auch nur einer von ihnen glaubte, ich würde wirklich etwas kaufen, und erwiderte die hoffnungslose Marktschreierei mit einem gebetsmühlenartigen „Jërajëf, baaxna, baalma“. Wenn mich jemand am Ärmel zupfte, ließ ich ein etwas festeres „Bëgguma dara“ vernehmen.
Nach und nach verloren sich die Händler, Guides und Musiker wieder und es gab kaum mehr Anzeichen dafür, dass ich noch am richtigen Weg war. Der Ortskern des Village Indigène war klein gewesen und lag längst hinter mir, der Strand war in offenes, ungepflegtes Land übergegangen. Allerdings sah man überall feiertäglich verwaiste Baustellen. Unterm Jahr wurde das touristische Kapital offenbar laufend vergrößert.
Nach einem etwa viertelstündigen Marsch über den verwilderten Strand fand ich mitten in der Einöde ein Schild vor, auf das eine ungelenke Hand „Chez L'Homme Tranquille“ gekrakelt hatte. Darunter war mit Kreide „fermé“ gemalt worden. In einiger Entfernung hörte ich ein beunruhigendes Geräusch. Es klang wie eine Axt, die in etwas Feuchtes, Zähes getrieben wurde. Ein unappetitliches, schmatzendes, knackendes Geräusch. Ich hielt mich nahe am Wasser und sah mich vorsichtig um. Hinter einer struppigen Hecke aus Schilf und verkrüppelten Sträuchern kam ein großes, luftiges Haus in Sicht, auf dessen Terrasse ein riesiger, massiger Schwarzer mit einer Machete eine Ziege ausweidete.
Nachdem ich schon einmal hier war, nahm ich meinen Mut zusammen und fragte: „Pardon, kennen Sie Monsieur Papiz Koné?“ Meine Stimme klang etwas dünn.
„Oui Monsieur. Das bin ich.“
Der schwarze Koloss lächelte. In der einen Hand hielt er die blutige Machete, mit der anderen fetzte er behände ein triefendes Stück Balg in die Ecke.
„Ça va?“, sagte ich. „Ich bin Chi, gibt's hier heute Dibiterie?“
„Ça va bien – Gute Idee, aber ich werde es verkaufen. Wir brauchen noch ein bisschen Bares für das Fest.“
„Assane sagen, Sie sprechen Englisch? Waxna francais tuuti rekk.“
„Ah, und Wolof tuuti rekk – hihi!“ Papiz wischte sich die Hand an der Hose ab und streckte sie mir freundlich entgegen. „Assane hat angerufen und gesagt, du wirst gestern kommen. Hast du ein Zimmer?“, fuhr er auf Englisch fort.
„Es war sehr spät, ich musste in ein Hotel. Hast du eine andere Empfehlung?“
„Ja. Ich fahre später nach Saly und zeige es dir.“
„Ok.“
Ich setzte mich auf das steinerne Geländer der Terrasse und sah Papiz beim Abziehen zu.
Sein Messer wischte flink durch den schlaffen Kadaver, der abgehäutete Kopf pendelte träge hin und her. Das Haus im Hintergrund schien zu schweben. Es bestand nur aus riesigen, unverglasten Fenstern und Licht – der verfallene Traum eines Aussteigers. Wahrscheinlich hatte es ein avantgardistischer Architekt irgendwann in den 70ern hier hingestellt, um darin die Last der Welt hinter sich zu lassen. Der gesamte vordere Teil der Villa war zum Meer und den Seiten hin offen, dünne Säulen trugen ein flaches Dach, das dem oberen Geschoss als weitläufiger Balkon diente. Dort oben schien es auch einige geschlossene Räume zu geben, weit hinten im Haus schraubte sich eine geländerlose Wendeltreppe in die Höhe. Vor dem Anwesen befand sich das, was offenbar das „Chez L'Homme Tranquille“ sein sollte. Ein flattriges Schilfdach mit einigen Tischen und Bänken darunter. Keine 20 Meter entfernt leckte träge der Ozean an der Küste.
„Das war´s“, meinte Papiz und schulterte die Ziege. „Ñu ngi dem .“
Hinter dem Haus stand ein klappriger alter Peugeot am Ende einer Sandpiste, die von der Zufahrtsstraße von Saly zum Haus führte. Papiz warf die Ziege auf die Rückbank, wir stiegen ein und rumpelten los.
Die Straße nach Saly war gut ausgebaut und endete im zentralen Verkehrsknoten der Stadt, einem mit rot-weiß gestreiften Bordsteinen gefassten Kreisverkehr mit einem Palmenarrangement in der Mitte. Von hier aus konnte man die verschiedenen Hoteleinfahrten erreichen. Direkt vor uns lag die prächtige Einfahrt meines Saly Hotel, dann gab es ein Espadon – ebenfalls vier Sterne –, ein Hotel Saly, ein Savanna Inn und eine begeisternde Menge von Wegweisern zur Post, zum Airportservice, zur Bank, zum Centre Commercial, dem Autoverleih, dem Quad-Center, King Karaoke natürlich und irgendwo zweigte eine brüchige Piste ins Herz des Chaos ab: das Village Indigène. Hier hingen die Stromleitungen bis in Kopfhöhe von ihren morschen Masten, wackelige Bretterbuden mit Sonnenschirmen davor täuschten vor, Geschäfte zu sein, und neunmalklug grinsende Jugendliche winkten alles und jedes heran, um es auszurauben, zu betrügen oder anzuschnorren. Tourismusmanagementmäßig war der Anblick eine astreine Katastrophe.
Papiz fuhr im Schritttempo durch die schmalen Gassen des Village Indigène, quatschte zum offenen Fenster hinaus mit den Leuten, Witze wurden
gerissen, Hände geschüttelt, ein Fleischer mit einem Hackebeil in der Hand ging ein Stück weit neben uns her und bekundete sein Interesse an der Ziege. Papiz fand allerdings keinen Gefallen an seinem Angebot.
„Ça va, Toubab“, krähte ein kleiner Bub mit einer Stimme, die Sammy Davis Junior zur Ehre gereicht hätte, und warf uns eine Handvoll Sand nach.
„Stimmt es, dass die Leute wegen der Hotels hierher gezogen sind?“
„Ja“, meinte Papiz. „Früher haben sie da gewohnt, wo jetzt die Hotels sind.“
So ähnlich hatte ich mir das vorgestellt.
Papiz verkaufte seine Ziege schließlich an eine Dibiterie im Zentrum des Village Indigène, wo sie wie eine Reklametafel – „Heute frische Ziege!“ – an den Zaun gehängt wurde, und wir machten uns auf, eine Unterkunft für mich zu finden. Das Village Indigène bestand im Wesentlichen aus einer Straße, die vom Verteilerkreis aus quer durch das Gestrüpp der niedrigen Häuser führte, und einem staubigen Dorfplatz, um den einige schäbige, einstöckige Wohnhäuser angelegt worden waren. Ausweichquartiere, die man vor Jahren für die Umgesiedelten aus dem Boden gestampft hatte. Zu den Hotelkomplexen hin zeigte das Village Indigène das etwas schlampige, folkloristisch geschönte Gesicht eines Dorfmarktes, auf dem – ganz im Sinne eines Eingeborenendorfes – ausschließlich Souvenirs gehandelt wurden. Die Shops hatten gemauerte Seitenwände und struppige Strohdächer, Sonnen- schirme und Holzgeländer sollten einen freundlichen Eindruck erwecken und an die adretten Shops im Centre Commercial von Hotel Ville erinnern. Im Inneren des Dorfes hingegen saßen die Kunsthandwerker im Ziegendreck vor ihren Häusern und raspelten an Mörsern, Schlüsselanhängern und anderem Kitsch
herum, den sie am Strand zu verkaufen versuchten. Ihre Werkstätten waren wackelige Konstruktionen aus morschen Holzstöcken, als Dach diente meist nichts als ein Stück Karton. Im Vergleich dazu sahen die Shops an der Straße aus wie noble Boutiquen.
Papiz brachte mich zu einer Auberge, einem Appartementhaus am nördlichen Rand des Village Indigène; einer Gegend, die man als die Rückseite von Saly bezeichnen konnte. Hermetisch ummauerte Ferienhäuser französischer Dauergäste bildeten hier ein konturloses Dorf im Dorf. Keines der Häuser hatte direkten Zugang zum Strand, es gab keine Geschäfte, keine Anzeichen öffentlichen Lebens, aus einem der uneinsehbaren Gärten drangen die Stimmen betrunkener Männer und Frauen in die Stille des späten Vormittags. Zwischen den Häusern lagen unerschlossene Parzellen, die als Ziegenweiden dienten.
Le Kepare, so hieß mein neues Quartier, gehörte einem Franzosen, der hier zwei oder drei Wochen im Jahr verbrachte. In der übrigen Zeit ließ er sein Domizil von einem schwarzen Hausmeister pflegen und an Feriengäste vermieten. Mir standen zwei geräumige Zimmer, eine Wohnküche, eine überdachte Terrasse, ein verschließbares Klo und ein Bad zur Verfügung. Für fünf Tage im Le Kepare zahlte ich weniger als für eine Nacht in meinem Hotel. Dafür musste ich mir das Bad mit einem Gecko teilen.
Nachdem ich eine Anzahlung geleistet und meinen Schlüssel erhalten hatte, verabredete ich mich für sieben Uhr mit Papiz zum Abendessen im Chez Gaucher, dem Lokal eines seiner Freunde, und spazierte zurück zum Hotel, um auszuchecken und meinen Wagen zu holen.
Zwischen den übermannshohen Gartenmauern der Ferienhäuser verliefen ausgefahrene Sandpisten, über die man die Hauptstraße, das Village Indigène und den Strand erreichen konnte. Hinter den Häusern türmte sich der Müll, Ziegen leckten an zerbrochenen Schnaps- und Champagnerflaschen, in schwarzen Säcken gärten die Überreste weihnachtlicher Festtafeln. Der Strand war ungenutzt, baden gingen die Bewohner scheinbar nur an den Hotelstränden. Ich stampfte durch den tiefen Sand in Richtung Süden, wo die Hotels lagen, und nach wenigen hundert Metern erreichte ich wieder den Strand des Village Indigène. Die strikte Trennung des Ortes in eine Zone für Touristen und eine Zone für den Rest war klar zu sehen. Auf der nördlichen Seite des Strandes gab es ungeharkten Sand und tote Fische, auf der südlichen Seite geharkten Strand und sonnenverbrannte Franzosen. Hier „Come see me shop, come see me shop!“, dort „Alles zu ihrer Zufriedenheit, Monsieur? Wollen Sie Jetski fahren, Monsieur?“. Die Grenze selbst war fast unsichtbar, aber sie schnitt Saly in zwei Hälften und weder Weiße noch Schwarze schienen sie je zu überschreiten. Interessanterweise fühlte ich mich in jener Hälfte wohler, in die ich eindeutig nicht gehörte.
Als ich an der Rezeption des Saly Hotel als nächste Destination die Auberge Le Kepare, Saly/ Village Indigène angab, machte mir ein Blick des Hotelbediensteten klar, dass ich jetzt zu keiner der beiden Hälften mehr gehörte. Ich wollte kein gepflegter Tourist sein, nicht in geordneten Verhältnissen leben und war mit den Angeboten, die im Dienstleistungsspektrum eines ordentlichen Hotels inbegriffen waren, offenbar nicht zufriedenzustellen. Was also konnte ich sein? Drogensüchtig? Päderast? Zu arm für das Saly Hotel? Jedenfalls war ich Abschaum und noch dazu weißer. Da ist man nirgends gern gesehen.
„Chez Gaucher – bienvenue!“ Ohne das ging es einfach nicht. Gaucher, der Inhaber des kleinen, wackeligen Restaurants, in dem ich mit Papiz verabredet war, hatte zwei Baustellenscheinwerfer auf das Schild über der Tür seines Strandrestaurants richten lassen und der strahlende Willkommensgruß fügte sich fast nahtlos in die leuchtende Kette der Restaurantschilder, die den abendlichen Strand von Saly Hotel Ville säumten. Nur lag Chez Gaucher etwa zwanzig Meter jenseits der Demarkationslinie, die das schwarze und das weiße Saly voneinander trennte. Für gewöhnlich zeigten die weißen Gäste kaum Interesse, die übersichtliche Geborgenheit ihrer Flug- und Unterkunftarrangements in Saly Hotel Ville zu verlassen und ihr Geld in das Dorf der delogierten Profiteure des Massentourismus zu bringen. Aber Gaucher schien ein begabter Marketingstratege zu sein, der die Vorteile seines Standortes geschickt zu nutzen wusste: Sein Restaurant lag außerhalb von Hotel Ville mit seinen Vertragshotels, seiner Dienstleistungsorientierung und seinen überhöhten Preisen und Gaucher konnte den wenigen weißen Gästen, die er mit seinem freundlich leuchtenden Schild über die unsichtbare
Grenze ins Village Indigène lockte, Langusten, Bier und Pastis weit billiger anbieten als die Konkurrenz in Hotel Ville.
Das Restaurant selbst bestand aus nichts als zwei gemauerten Seitenwänden, einem Strohdach und einem Bretterverschlag als Rückwand. Nach vorne hin war es offen, ein Vorhang aus Stoffstreifen vermittelte Luftigkeit und Partystimmung, die Sicht auf die sichere Ordnung der nahen Hotels war nicht beeinträchtigt. Das war psychologisch sehr geschickt. Es vermittelte dem Besucher das Gefühl, den Schutz des Hotelverbundes von Saly nicht wirklich verlassen zu haben, gleichzeitig konnte der Besuch des „Chez Gaucher“ zweifellos als beherztes Abenteuer, als Begegnung mit freundlichen Eingeborenen in den Reiseerinnerungen abgelegt werden. Allein das Interieur des Lokals konnte bei Bewohnern eines gediegenen Hotels kein anderes Gefühl aufkommen lassen, als das, mitten in einem ganz originalen Eingeborenendorf gelandet zu sein. Die Tische waren schmucklos, wackelig und kamen ohne Tischtücher aus, kein Sessel glich dem anderen, besonders abenteuerlich Gestimmte konnten sogar auf grob behauenen Holzstrünken Platz nehmen. Direkt vor dem Lokal lag eine Piroge
am Strand, die der Beteuerung der Tageskarte „Alles frisch aus dem Meer“ eine sehr vitale Note gab. Das Originalste aber war ein Koraspieler, der das melancholische Flehen seiner Kürbisharfe mit sacht klagendem Gesang begleitete. Papiz erklärte mir, dass der Mann aus Mali stammte, in Bambara sang und als Gastarbeiter in Saly lebte. Aber er war ganz anders als die Drum-, Dance- und Gute-Laune- Hopser, die in bunt gefärbten Baströckchen für traditionelle Unterhaltung in den Hotels sorgten. Also wirkte er wirklich sehr authentisch und trug das Seine dazu bei, dass im Chez Gaucher tatsächlich winzige Tröpfchen vom Touristenstrom abgeschöpft wurden. Wir setzten uns an einen freien Tisch und bestellten Bier.
„Heute ist wenig los“, meinte Papiz, „aber morgen kommt Gaucher aus dem Gefängnis raus, da wird es eine Party geben.“
„Er ist im Gefängnis?“
Vielleicht war Gaucher ja doch kein glänzender Marketingstratege, sondern – eher den Erwartungen meiner holländischen Tomatenfamilie entsprechend – ein übler Halsabschneider.
„Ja, es ist ein Witz. Er musste zwei Tage einsitzen.“
„Wofür?“
„Er hat L'Homme geholfen, die Reklame für unser Silvesterfest in den Hotels zu verteilen.“
„Dafür kommt man ins Gefängnis?“
„Na ja, nicht wirklich. Die A.S.A. hat das Recht, verdächtige Personen ein bis zwei Tage festzuhalten. Sie machen das, um uns einzuschüchtern.“
„Aber das ist verrückt.“
„Nein, gar nicht. Alles, was die Gäste von Hotel Ville brauchen, wird in Hotel Ville angeboten. Ein Schwarzer, der dort nicht arbeitet, kommt also nur, um zu stehlen oder um ein Geschäft zu machen, für das er keine Konzession hat. Also sagt man ihm, er soll verschwinden oder er kommt ins Gefängnis.“
„Scheiße.“
„Ja, und völlig legal. Es gibt eine eigene Gesellschaft, die mit der Verwaltung der petite côte beauftragt ist und garantieren soll, dass diejenigen, die hier investieren, auch gute Profite erzielen. Das ist ja auch ganz fair. Nur Senegalesen werden dabei nicht berücksichtigt. Die Hotels gehören Franzosen.“
„Aber wenn Gaucher hier Geschäfte macht und investieren will, ist doch sein Geld so gut wie das von jedem anderen.“
Papiz lachte. „Selbst wenn wir welches hätten, unser Geld wäre nie so gut, wie das von richtigen Investoren.
Wenn du als Senegalese Geld hast, hast du sofort Ärger. Alle Verwandten kommen, es wird viel Druck gemacht, jeder sagt: ‚Du willst ein Restaurant für Toubabs bauen und wir müssen hungern!’. Du wirst verflucht, es gibt ununterbrochen Streit und irgendwann gibst du nach und dein Geld ist weg. Dein Restaurant gibt es natürlich auch nicht.“
„Und Gaucher?“
„Gaucher ist sehr geschickt. Außerdem hat Assane ihm geholfen. Assane hilft uns überhaupt sehr. Er hat letztes Jahr bei der französischen Botschaft um Förderungen für ein Kulturprojekt angesucht und wirklich Geld bekommen. Er wollte hier mit Gaucher und L'Homme ein maison culturelle aufziehen. Mit einem Restaurant und Ausstellungen von Künstlern, die nicht nur Dekoration produzieren. Bildende Kunst, Musik, Tanz – richtige senegalesische Kultur.“
„Und was ist schief gegangen?“
„L'Homme wurde vor zwei Monaten enteignet. Und Gauchers Restaurant ist zu klein für ein maison culturelle. Aber immerhin, sie haben Pastis.“
Papiz war ein sehr profunder Trinker von Pastis. Und während wir tranken, erzählte er mir, wie Assane und L'Homme gemeinsam einen Antrag an
die Verwaltungsgesellschaft SAPCO gestellt hatten, mit dem Ansuchen, das Grundstück kaufen zu dürfen, auf dem L'Homme als Pächter seit Jahren sein Restaurant betrieben hatte. Die Parzelle lag etwa auf halbem Weg zwischen Gauchers Restaurant und dem Fischmarkt, grenzte vorne direkt an den Strand und zog sich nach hinten weit ins Dorf hinein, wo die Werkstätten der Souvenirschnitzer lagen. Wenn man hinübersah, konnte man ein frisch abgestecktes Grundstück erkennen, von einem Restaurant war allerdings nichts zu sehen. Bulldozer hatten es vor drei Wochen dem Erdboden gleichgemacht.
Assane hatte seinem Antrag damals eine Kopie des positiven Bescheides seines Projektantrags beigefügt, in dem die französische Botschaft weitere Mittel für das maison culturelle zusagte, sobald die Eigentums- verhältnisse das Grundstück betreffend geklärt waren. Aber die SAPCO hatte sich ein Jahr lang geweigert, wenigstens den Erhalt des Antrages zu bestätigen, und vor drei Monaten einen Räumungsbescheid gegen L'Homme erlassen, da er es verabsäumt hatte, das von ihm wirtschaftlich genutzte Land rechtmäßig zu erwerben. Als Ersatz hatte man ihm eine zweihundert Quadratmeter
große Parzelle fünf Kilometer vom Strand entfernt angeboten. L'Homme hatte sich geweigert und damit alle Ansprüche verloren. Als die Bulldozer kamen, wollte er sich vor eine der Baumaschinen stürzen, um sie zum Halten zu zwingen, aber Papiz hatte ihn eigenhändig weggetragen. Wie er das sah, hätten sie L'Homme ganz einfach überfahren. Seither hielt L'Homme das Haus am Ende des Strandes von Saly besetzt, wie er es trotzig formulierte. Das Haus gehörte einem Musiker, der in Europa lebte und die Nutzung seines Hauses gerne duldete. Jedenfalls wollte L'Homme in dieser Zentrale des Widerstandes eine seiner legendären Silvesterpartys schmeißen, um genug Geld für einen Anwalt zusammenzubekommen, der mit ihm für eine angemessene Entschädigung kämpfen sollte.
Beim Versuch, die Einladungen für das Fest im Hotel zu verteilen, waren er und Gaucher festgenommen worden. L'Homme war ziemlich betrunken gewesen und man hatte ihn laufen lassen, aber Gaucher hatten sie für zwei Tage behalten. Jeder in Hotel Ville hasste sein Restaurant und wollte sein Möglichstes tun, auch Gaucher zum Aufgeben zu zwingen. Dummerweise gehörte das
Grundstück, so klein es auch war, unbestreitbar ihm. Er hatte es vor 20 Jahren gekauft, als Saly noch ein Fischerdorf in jener schönen Bucht gewesen war, die heute Hotel Ville hieß. Als in Saly mit der touristischen Erschließung der petite côte begonnen wurde, war Gauchers Grundstück außerhalb der umgewidmeten Gebiete gelegen und er war von den Zwangsumsiedlungen nicht betroffen gewesen. Heute stellte sein Restaurant einen beträchtlichen Wert dar und Gaucher fuhr nicht mehr zur See, um seinen vielen Feinden nicht die Freude zu machen, einfach beim Fischen zu ersaufen.
Papiz´ Augen waren rot vom Schnaps und ich sah bestimmt auch nicht gut aus. Der Koraspieler, die weißen Abenteurer und die Kellnerin waren längst gegangen, nur Papiz und ich saßen mit unserer zweiten Flasche im dunklen Lokal und schwiegen.
„Manchmal bin ich froh, dass es den Schnaps gibt“, schloss Papiz den Abend. „Dann habe ich zu viel Kopfschmerzen, um jemanden umzubringen.“
Jemanden umzubringen, wäre in jeder Hinsicht fatal gewesen. Das Geschrei, der Dreck, die große Mühe – undenkbar. Der einzige Kopf, den ich unter Umständen gerne weggepustet hätte, war mein eigener. Das hätte zumindest den Schmerz beendet. Ich lag in einem Bett und zwischen den staubigen Jalousien brannte die Sonne herein. Vermutlich befand ich mich in dem Bungalow, den ich gestern bezogen hatte, allerdings war mir völlig unklar, wie ich hierher gekommen war. Einen Ansatz einer Erklärung bot der schnarchende Papiz, der im Nebenzimmer am Boden lag. Benommen und vermutlich noch immer jenseits der Promillegrenze betrunken schleppte ich mich ins Bad und stellte mich unter die Dusche. Der selbstbewusste Strahl der Viersternebrause fehlte mir, aber zumindest war das zögerlich tröpfelnde Wasser kalt. Ich ließ es auf meinen Kopf und meine Schultern rieseln und langsam kehrte das Gefühl, ein lebendiges Wesen zu sein, in meinen Körper zurück. Ein Wesen mit einem Monster von Kater allerdings. Ich schwankte zurück in mein Zimmer, Papiz hatte sich aufgesetzt und blickte sich verwundert um.
„Ah“, sagte er, als er mich im Halbdunkel erkannte.
„Alles ok?“
„So lala. Und bei dir?“
„Wie viel haben wir gestern getrunken?“
„Zwei Flaschen, denke ich.“
„Nachher noch irgendwas?“
„Glaube nicht.“
„Na ja, wir werden ja sehen. Kann ich duschen?“
„Klar.“
Ich hörte Papiz unter dem Wasser prusten und trotz der Kopfschmerzen musste ich lachen.
Im gleißenden Sonnenlicht wankten wir zurück ins Chez Gaucher, um ein kleines Bier zu trinken und der Kellnerin glaubhaft zu machen, dass wir es gestern bei zwei Flaschen Pastis hatten bewenden lassen – ich zahlte, bevor mich Papiz darum bitten konnte. Das Bier sickerte in meinen sumpfigen Kopf, gemeinsam mit meiner Sonnenbrille bildete es eine Art Helm, an dem die Außenwelt abprallte und lediglich als unscharfes Echo in meinen Schädel drang. Ein Baye Fall kam herein, quatschte eine Weile und bekam schließlich ein Glas Wein von einem dicken Mann spendiert, der ganz hinten im Lokal saß und Geld zählte. Der Baye Fall tauchte einen Finger in den Wein und spritzte einige Tropfen auf den Boden, bevor er das Glas zügig leerte.
„Sacrifice“, erklärte Papiz.
„Ist das da hinten Gaucher?“
„Nein, das ist ein Arschloch vom Centre Commercial. Er sitzt gerne hier und zählt sein Geld. Ein Wichtigmacher.“
Ganz vorne im Lokal hatte eine Gruppe Franzosen Platz genommen – Jet-Ski-Typen, die gerne allen möglichen Unsinn zum Frühstück gehabt hätten, den es bei Gaucher eben nicht gab. Primitiv sei das hier, meinte man und von Scheißservice war die
Rede. Die Kellnerin schwenkte ihre Hüften und bot Pastis an. Damit war die Jet-Ski-Runde ebenfalls unterwegs ins Öl. Hin und wieder streifte mich einer ihrer Blicke, skeptisch und befremdet, Blicke, die man Pennern am Bahnhof zuwirft, von denen man erwartet, sie würden einem bei der ersten Gelegenheit das Gepäck klauen. Für sie war ich einer von draußen, ein dubioser Überläufer, verbrüdert mit räuberischen und verkaterten Schwarzen, gegen deren unverschämte Übergriffe es zum Glück den Sicherheitsdienst gab.
Der Sicherheitsdienst. Das Bier hatte meine aufkeimende Übelkeit erstickt und mit einem zähen Dacapo meines gestrigen Rausches auch meine Erinnerungen wiedergebracht. L'Homme, Gaucher, die Enteignung, Papiz´ verhinderte Mordlust, der Schnaps, die Kopfschmerzen. Hier schloss sich der Kreis und zwar in Papiz´ Gesicht, der mit einem Blick auf den Strand hinausstarrte, der gleichermaßen nach Mordlust und Kopfschmerzen aussah. Draußen spazierte langsam und provokant ein Mann vom A.S.A. Security Service auf das Chez Gaucher zu, schob seine Sonnenbrille auf der Nase vor und spähte mit zusammengekniffenen Augen in die schattigen Tiefen des Lokals – der Ungeziefermann
auf der Suche nach dem rattengebärenden Unrat. Papiz´ Körper straffte sich, als der A.S.A.-Knabe gemächlich ins Lokal kam und begann, entspannt auf die Kellnerin einzureden. Sie blitzte ihn wütend an und erwiderte seinen Begrüßungssermon mit wenigen schroffen Worten. Das schien den Ungeziefermann nicht weiter zu stören, er legte gemütlich sein Walkie-Talkie auf den Tisch, bestellte ein Cola, schlug behaglich die Beine übereinander und tat im Ganzen so, als wäre er der von der Arbeit heimgekehrte Patriarch.
Papiz eröffnete den Dialog. Sein Wolof klang wie ferner Donner und der A.S.A.-Kerl setzte diese Ach-ja-stimmt-da-war-doch-was-Miene auf, an der man fiese Arschlöcher erkennt. Er murmelte gelangweilt irgendetwas, das scheinbar Gaucher betraf, und Papiz musste noch mal und noch mal nachfragen, ob Gaucher entlassen würde, und wenn, wann, und der Sicherheitsbeamte ließ sich genüsslich jedes Wörtchen bei der Nase herausziehen. Es war eine mühsame und erniedrigende Prozedur und obwohl mich die Sache im Grunde nichts anging, stieg die Aggression in mir hoch und krampfte meinen Magen zusammen. Aber es war die Kellnerin, der der Kragen platzte.
Als sie das Cola gemeinsam mit einer frechen Bemerkung servierte, warf sich der offizielle Repräsentant der Ehrfurcht gebietenden A.S.A. in Pose, um ihr mit einer scharfen Zurechtweisung den nötigen Respekt einzuflößen. Eine unkluge Entscheidung. Die Stimme der Kellnerin ging los wie die Sirene eines ganz privaten Weltgerichts, das über den A.S.A.-Mann hereinbrach: Ihre Tiraden waren ein Schlachtgesang und ihre Körpersprache eine Kampfhandlung. Hart und zielsicher feuerte sie ihre Rede direkt in das Gesicht des wehrlosen A.S.A.- Schlaffis und ich stellte mir die köstlichen Beleidigungen vor, die der Mann hier ausfasste: „Du quatschst mich an, du lausiger Macker? Dir hat deine Uniformhose doch das bisschen Sack abgeschnürt, das du mal hattest. Keiner von uns hier kann deinen Arsch von deinem Gesicht unterscheiden und nur weil du einen Job hast, würde kein echter Mann je mit dir tauschen wollen. Und eine echte Frau will erst recht nichts von dir wissen! Sogar für die schlaffen Weißbrotgören bist du weniger als Luft. Du bist ein Diener! Aber hier braucht keiner einen Diener und du stinkst, weil sie für einen Furz wie dich nur ein Uniformhemd rausrücken. Also pack dich, sonst tret ich
dir in deinen wabbeligen Schwitzarsch, du Eunuch ...!“
Was auch immer sie tatsächlich gesagt hatte, der A.S.A.-Pudding packte sich. Er hatte sich erhoben und sich unter dem Stakkato ihrer Beleidigungen Schritt um Schritt zurückgezogen, bis er mit seinen Sicherheitsserviceschuhen im Dreck hinter dem Lokal stand. Papiz setzte ein Grinsen auf, das heller leuchtete, als die Sonne, die Franzosen hatten schieläugig die Szene beobachtet und begannen, vom Temperament zu labern, das die Kleine hatte und – hui – da könnte man sich ja vorstellen ...
„Ich glaube, sie mag ihn.“
Papiz glotzte mich einen Moment lang verdutzt an. Dann polterte ein dröhnendes Lachen los, er gab mir Fünf: „Assane hat gesagt, du hast einen verrückten Humor!“
Er knurrte der Kellnerin eine Übersetzung meiner Einschätzung zu und sie segelte zu uns herüber: Trippelnde Schritte, das Bartuch schwang an ihrer Seite, als wäre es ein Täschchen von Louis Vuitton – sie war ganz die beleidigte Madame.
„Me! Him? No!“, warf sie mir theatralisch an den Kopf und fügte mit veränderter, anzüglicher Stimme etwas hinzu, das Papiz einen Kicheranfall bescherte.
Ich verstand kein Wort, aber die Kellnerin war noch lange nicht mit mir fertig. Sie pinselte mit ihrem Bartuch meine Nase, kniff mir in die Backen und erzählte irgendetwas von „rafet“, was soviel wie hübsch hieß, und meinte, ich müsste mich schon ranhalten, wenn ich „travaille, travaille“ wollte, mit den sexy Frauen, die es hier gab. Abgesehen von einem blöden Grinsen hatte ich ihr nichts entgegenzusetzen und ihr war egal, dass ich sie nicht verstand. Ich hatte mich mit meinem Kater zu weit hinausgelehnt und die Kellnerin zeigte mir, was dazu gehörte, in Afrika ein Großmaul zu sein. Sie wusste, wie man sich in einer Gesellschaft von Maulhelden und Nichtstuern behauptete, und war dazu übergegangen, mir rabiat und voller Hohn den Hof zu machen.
„Gourgoulou“ nannte sie mich, setzte sich auf meinen Schoß und meinte mit schmelzender Stimme: „Dama bëgg takk, sama Gourgoulou!“
Papiz lachte sich schief. „Du musst sie heiraten, Gourgoulou!“, prustete er und ahmte beim Wort Gourgoulou ihre gurrende Honigstimme nach.
Die Kellnerin hatte sich inzwischen erhoben und gab zur Abwechslung die strenge Stammesmutter, die kritisch meine Hände musterte. Sie verkörperte hier
oscarreif ihren ganzen Clan und ich war wehrlos. Erdrückt von einer Frau mit der Kraft einer ganzen Familie.
„Was sind denn das für Kinderhände!“, schimpfte sie. „Musst du nichts arbeiten zu Hause? Männer haben bei uns Männerhände. Oder sie sind Faulpelze!“
Sie stand vor mir und fuchtelte mit ihrem erhobenen Zeigefinger drohend vor meiner Nase. „Und wer faul herumsitzt, kriegt keine gute Frau.“
Papiz brüllte vor Lachen und unterstützte der Kellnerin nach Kräften, die Highlights ihrer Bosheiten übersetzte er für mich.
Schließlich fanden die Franzosen, dass ich genug Spaß gehabt hatte, und bestellten mehr Drinks. Die Kellnerin ließ von mir ab und nahm einen der Franzosen in die Mangel. Er hatte blondierte Locken und hielt sich für smart. Das hatte sie ihm abgeräumt, bevor er das erste Mal den Mund aufmachen konnte.
„Ñu ngi dem,“ meinte Papiz grinsend. „Wir holen Gaucher ab.“
Das Hauptquartier der A.S.A. lag direkt hinter dem zentralen Kreisverkehr von Saly zwischen der Bank und King Karaoke. Davor saß Gaucher, der meines Wissens nach einzige politische Gefangene im direct marketing-Bereich, und wartete auf uns. Seine Erscheinung passte ebenso gut zu einem Halsabschneider wie zu einem brillanten Marketingstrategen und neben ihm sahen Papiz und ich aus wie der Marshmallow-Mann und sein Freund, das schlaffe Baguette. Gaucher war ein drahtiger Hüne mit riesigen Zähnen, seine Nase war lang und flach und er redete im scharfen Ton eines Schleifers beim Militär. Er und Papiz saßen hinten in meinem Wagen und ich fuhr sie zu einer Lagebesprechung bei L'Homme Tranquille. Ich hatte alle Mühe, den Wagen auf der Straße zu halten – gleich zu Beginn unserer Fahrt wären wir um ein Haar von einem Konvoi aus Geländebussen von der Straße gestanzt worden, die aus einer der Hotelausfahrten rasten, ohne auf irgendeinen Verkehrsteilnehmer zwischen hier und ihrem Reiseziel „Abenteuerwelt Sine Saloum“ Rücksicht zu nehmen. Mir war übel und ich hasste mich für meine freundliche Bereitschaft, jedem im Senegal, der mir seine Sorgen erzählte, meinen Wagen anzubieten.
In L'Hommes konspirativem Restaurant hatten sich bereits einige Leute eingefunden. Wir betraten das luftige Haus von seiner unattraktiven Rückseite her. Auf der Terrasse waren einige Schwarze versammelt und Gaucher begann, ohne Einleitung seine Instruktionen zu geben. Ich setzte mich etwas abseits in den Schatten und hielt mich raus. Mir brummte der Schädel und die Ruhe des abgeschiedenen Hauses tat mir gut. Es hatte mir schon bei meinem ersten Besuch gefallen. Die Architektur war klar und sparsam, der Lebensraum ging unmittelbar in die Natur über und lag dem verwilderten Strand einer Bühne gleich gegenüber. Umgeben von einem stacheligen Wall aromatischer Hecken war das Gebäude ein Relikt. Ich konnte mir gut vorstellen, wie die Aura des dichtenden Präsidenten der jungen Republik in den frühen 70er Jahren Künstler und Utopisten in den Senegal gelockt hatte, die sich hier, in Afrika – dem wahrhaft neuen Kontinent, der Wiege der Menschheit – ihre Träume verwirklichen wollten; von der Musik inspiriert, der Malerei erlegen, im Einklang mit den klaren Formen. Leute, die an einen wilden Strand ein Haus bauten, wie es in Europa niemals stehen konnte, hier lebten, kifften
und – was weiß ich – Briefmarken entwarfen oder Jazz hörten.
Heute lag das Lufthaus längst verschwundener Träumer in einer Art Niemandsland. Es gab keinen Strom, Saly Hotel Ville war noch nicht weit genug gewuchert, um Appetit auf dieses Juwel zu bekommen, und in unserer nüchternen Zeit war es dem durchschnittlichen französischen Zweitwohnsitzer wohl doch etwas zu exzentrisch. Also diente es L'Homme als malerische Widerstandszentrale gegen die Interessen inter- nationaler Investoren, die Fischer zu Obdachlosen und Restaurantbesitzer zu Rebellen machten. Wie es aussah, saßen hier die wenigen Leute zusammen, die sich nicht anstellen oder vertreiben lassen wollten, sondern versuchten, in ihrem Land auf ihre Weise Geschäfte zu machen. Und dazu organisierten sie eine Party, um genug Geld für weitere widerspenstige Aktivitäten zu haben. Das gefiel mir. Außerdem war ich gespannt, den titelgebenden Helden dieses leichtfüßig anmutenden Existenzkampfes kennenzulernen. L´Homme Tranquille – den stillen Mann.
Die Leute des stillen Mannes rissen mich schließlich mit einigem Lärm aus meiner Träumerei;
ein heftiger Streit war entbrannt. Zwei Gruppen hatten sich gebildet, die ohne Freundlichkeit und mit beachtlicher Lautstärke aufeinander einredeten. Der einen Gruppe gehörten Gaucher, ein großer Kerl, der vermutlich sein Bruder war, Papiz und ein sehr schmaler, zurückhaltender Mann in einem bescheidenen Anzug an. Die andere Gruppe setzte sich aus unterschiedlichen Figuren zusammen, die mich an die Verkäufer und Keiler am Strand erinnerten. Heftig gestikulierend wurden Reden gehalten, keiner hörte dem anderen zu, keiner sprach den anderen direkt an und schließlich wurde es still zwischen den Parteien. Gaucher stand da und schwieg. Ein großer Schwarzer mit Rastas – er schien der Hauptredner seiner Gruppe zu sein – sah ihn erwartungsvoll an. Nichts geschah. Nach etwa zwei Minuten trollte sich die Truppe des Rastatypen.
Papiz kam zu mir herüber und setzte sich im Schatten auf eine einfach gezimmerte Bank. Der Schweiß stand ihm in dicken Perlen auf der Stirn, er wirkte müde und dunstete Alkohol aus.
„Scheißdreck. Gaucher hat diese Leute für das Silvesterfest engagiert. Sie sollten in der Küche arbeiten, servieren, Musik machen – mithelfen eben.
Jetzt war Gaucher im Gefängnis und sie sagen, es sei gefährlich, für ihn zu arbeiten.“
„Warum?“
„Es ist nicht gefährlich. Sie erzählen bullshit, weil sie mehr Geld wollen.“
„Ich dachte, L'Hommes Leute wären solidarischer.“
Papiz sah mich an. „L'Hommes Leute?“
„Na ja, die hier eben gegen seine Enteignung kämpfen.“
Papiz setzte ein höhnisches Grinsen auf. „Ach, so. Égalité, Fraternité, L'Homme Tranquillé!“ Er hatte seine massige Faust in die Luft gerissen. „Ist es das, was du meinst?“
„Vielleicht bin ich ja dumm, aber es wäre doch logisch, wenn die, die von den Hotels vertrieben und übervorteilt werden, gemeinsame Sache machen, oder?“
„Logisch wäre das schon. Aber sie lassen uns nicht genug Business für Solidarität. Das ist der Trick. Solidarisch oder nicht, hier haben immer nur zwei von fünf was zu beißen – also streiten wir und sie haben ihre Ruhe.“
Teilen und herrschen. Susanne hatte mir davon erzählt. Gaucher und der Rest seiner Truppe zogen sich ins Haus zurück, Papiz erhob sich schwerfällig und wir folgten ihnen. Die Halle war trotz ihrer offenen Anlage angenehm kühl, Gaucher stand in der Mitte des Raumes und starrte eine verrostete Dose an, die vor ihm am Boden lag. Der Mann, der aussah wie sein Bruder, lümmelte lang ausgestreckt auf einem wackeligen Sessel, in einer Ecke kramte der unscheinbare Typ in seiner Hosentasche. Die Partylöwen des Widerstandes hatten offenbar Motivationsprobleme, nachdem sich das Team halbiert hatte. In Österreich hätte ich ziemlich genau jetzt mit dem Vorschlag gerechnet, die Sache einfach bleiben zu lassen – schließlich gab es genug andere Sachen, die man machen konnte. Papiz stand unschlüssig zwischen mir und der Gruppe, niemand sagte etwas. Es war eine unangenehm intime Szene und ich fühlte mich nicht gut dabei, den Leuten sogar bei ihrem Scheitern auf die Pelle zu rücken.
Schließlich brach der unscheinbare Mann das Schweigen. Er machte sich mir als Mamebirane bekannt und reichte mir seine Karte, die ihn als Leiter des „Centre du Bonsai Baobab/ Saly“ auswies. Eine Beschäftigung, die gut zu ihm passte. Er war sehr freundlich, sprach für einen Senegalesen ungewöhnlich leise und schien die geordnete Förmlichkeit der gegenseitigen Vorstellung zu genießen. Hände wurden geschüttelt, der Mann, der aussah wie Gauchers Bruder, stellte sich als Gauchers Bruder Omar vor, Freundlichkeiten wurden ausgetauscht, das Befinden der Familien abgefragt und langsam kam wieder Bewegung in die Gruppe. Gaucher erwachte wie aus einem Wachtraum und setzte alle darüber in Kenntnis, dass ich meinen Wagen für den Transport zur Verfügung gestellt hatte. Mamebirane tat sehr beeindruckt und bedankte sich vielmals, Omar schüttelte mir nochmals mit ernster Miene die Hand und Gaucher machte sich daran, die Aktion neu zu planen. Die Stimmung war wieder bestens, die Truppe hatte sich in Schwung geredet. Wir waren immer noch viel zu wenige, um ein großes Fest zu organisieren, aber dem Gespräch kam im Senegal scheinbar eine große Bedeutung zu. Die simple
Tatsache, dass man etwas besprochen hatte, wurde als wesentlichster Schritt zum Erfolg angesehen. Mehr Sicherheit über ihre Geschäfte konnten die Leute hier ohnehin nicht gewinnen.
Den Rest des Nachmittags hatten Papiz und ich wartend verbracht. Gaucher hatte sich rasch wieder auf die explosive Betriebstemperatur eines Marketingstrategen und Halsabschneiders hochgequatscht und die Aufgaben neu verteilt: Assane sollte informiert werden, um Verstärkung zu organisieren, Mamebirane würde Musiker auftreiben und schließlich musste L'Homme gefunden werden, der offenbar verschwunden war. Alle hatten eifrig durcheinandergeredet und am frühen Nachmittag hatte sich unsere kleine Versammlung aufgelöst, ohne dass auch nur einer von uns gewusst hätte, was als Nächstes geschehen sollte. Alles, was ich wusste, war, dass in Dakar das Begräbnis von Léopold Sédar Senghor stattfand, und wir Assane bestimmt nicht erreichen würden. Also hatten wir begonnen zu warten. Wir warteten, bis man Senghor unter die Erde gebracht hatte, wir warteten auf L'Homme, wir warteten, bis jemand sagte, „Fahrt dahin und holt dies“ oder „Kommt mit, wir machen jenes“ und nebenbei warteten wir auch darauf, dass die Zeit verging und unsere Kopfschmerzen mitnahm.
So war es Abend geworden und wir saßen in der Halle des luftigen Hauses, das Licht schwebte mild im Raum. Der Boden war rau, es gab keinen Schmuck und bei aller Schönheit hatte das Haus eine Strenge, die es fast unbewohnbar machte. In diesem Raum ein Abendessen einzunehmen, war vermutlich nur im Rahmen eines Theaterstücks möglich. Die Akteure, die hier einst ihr Aussteigerleben gespielt hatten, waren allerdings längst verschwunden und die Eidechsen hatten das Haus erobert. Als lebende Ornamente saßen sie auf den schlanken Säulen und nutzten die letzten Sonnenstrahlen. Ohne erkennbare Ordnung standen einige rostige Stahlrohrsessel herum, Skeletten ähnlich, die in der Wüste lagen. Für die aktuellen Bewohner des Eidechsenhauses hatten sie keine Funktion oder Bedeutung. Sie waren Fossilien und standen in keinem Verhältnis zu dem nomadischen Leben, das hier Quartier genommen hatte. Wir saßen am Boden, der flüchtige Rauch des Grills war wirklicher als das Haus, durch das er zog. Papiz inszenierte hier nichts. Er heizte ein selbst gebasteltes Stövchen an. Eine Eidechse huschte durch den Raum, weiter hinten im Haus war irgendeine Tätigkeit in Gang gekommen.
„Papiz, mein Freund!“
Aus dem Dunkel des Hauses fegte ein alter Schwarzer in die Halle, der einen Korb voll Fisch schwenkte wie eine Trophäe. Sein Haar war weiß und stand in alle Richtungen von seinem Kopf ab, sein Gesicht war ein bewegtes Meer aus Falten, weiße Bartstoppel umstanden seinen Mund. „Ça va, mon cher. Überall Sonne? Mhh, du altes Fass – wie du duftest! Ich würd mich auf dich stürzen, wenn ich einen Rock anhätte! Hihi, what do we have, what have we got ...“
Der Alte plapperte unablässig wie ein Verrückter, Papiz hatte sich umgedreht und schüttelte ihm die Hand. Während die beiden einander begrüßten, zwinkerte mir der Alte immer wieder zu und schnitt verrückte Grimassen. Als er mit Papiz fertig war, wandte er sich abrupt an mich und starrte mich an, als hätte er mich noch nie gesehen.
„Meine Güte“, rief er entgeistert, „ein Gast!“. „Was machen wir da? Na nga deff? Wunderbar? Marvellous? Ich weiß, was wir tun! Ganz wie in Dakar legen wir Senghor auf Eis. Genug für drei Knaben, zu wenig für Abdulaye Wade! What do you think, what do you say?“
Er hatte in vier verschiedenen Sprachen zu mir
gesprochen und ich hatte kein Wort verstanden.
„Pardon?“
„Pardon, pardon – die Linke wäscht die Rechte – pardon ... Wie sieht's aus, offener Mund? Ein Bier?“
Ich klappte den Mund zu. Die Augen des Alten waren lebhaft und seine Blicke huschten auf meinem Gesicht umher wie Wiesel. Wenn ich ihn für verrückt hielt, hielt er mich für stumpfsinnig.
„Ja, gern.“
„Ja, gern! Allez – einmal Senghor macht 40.000 CFA, mein Freund – sonst kommt nichts zusammen.“
Der Alte war lachend in die unbeleuchtete Tiefe des Hauses zurückgekehrt, wo er scheinbar Bier versteckt hatte.
„Wer ist das denn?“, fragte ich Papiz vorsichtig.
„Das? Das ist L'Homme Tranquille!“
Ich war verwirrt. Ich hatte eine Ikone des Widerstandes erwartet, einen Che Guevara des Village Indigène von Saly. Der stille Mann – wie das schon klang. Aber L'Homme war eher der verschollene siebente Marx Brother.
„Die Menschen lieben L'Homme. Er ist ein großer Entertainer“, meinte Papiz lächelnd. „Und ein hervorragender Koch.“
Im Hintergrund klimperte und rumorte der große Koch und Entertainer auf der Suche nach Bier.
„Und wieso legen wir Senghor auf Eis?“
Papiz lachte. „L'Homme ist unglaublich. Er muss sich über alles lustig machen ... Früher hat man bei uns zu einem großen La Gazelle ‚Senghor’ gesagt. Und na ja“, Papiz kicherte wie ein Schulbub, „in Dakar liegt unser alter Präsident jetzt wohl auch schon eine Weile auf Eis wegen der ganzen Streiterei. Wie bei L'Homme das Bier eben.“
L'Homme schoss zurück in die Halle, er tauchte aus der Dunkelheit auf wie ein Haubentaucher aus dem Wasser. Er hatte uns einen verbeulten Blechkübel mitgebracht.
„We grill, Messieurs! Fisch, gegrillt! Fisch gegrillt und mit Sauce Njama Njama! Wie heißt du, mein Freund!?“
„Chi ...“
„Chi!? Chi Cha Chong!? Du bist blass für einen Chinesen! Ich werde dir ein Geheimnis verraten, blasser Chi-nese: Ich bin nicht L'Homme Tranquille. Ich bin L'Homme ne pas Tranquille!“
Mit diesen Worten knallte er den Blechkübel vor mir auf den Boden, Bierflaschen klingelten auf zerstoßenem Eis.
„Senghor on the Rocks! Santé!“
Papiz und ich nahmen auf L'Hommes Geheiß an einem Tisch im Freien Platz und nuckelten im unruhigen Schein einer Kerze zögerlich an unseren Bieren. Nach der gestrigen Pastis-Folter kam keine richtige Saufstimmung auf. L'Homme hingegen hatte bereits während des Kochens ordentlich zugelangt. Nach Vollendung seiner geheimen und köstlichen Sauce Njama Njama schlingerte er mit dem Essen und einem weiteren Kübel voll Bier und Eis heran und servierte unser Abendessen mit der Grazie einer Gliederpuppe in einem Wirbelsturm.
Vielleicht war L'Homme betrunken und albern, aber er war ein Künstler. Der Fisch sah aus wie der, den die kleine Frau gegrillt hatte, und auch die Sauce schien sich nicht von einer herkömmlichen Senfzwiebelsauce zu unterscheiden, wie man sie hier praktisch überall und zu allem bekam. Aber der erste Bissen überzeugte mich davon, dass L'Homme eine Gabe besaß. Es gab Andreas Herzog und es gab Luís Figo. Es gab Herbert Grönemeyer und es gab Mike Patton. Es gab meinen alten Henning und es gab Peter Pau. Das ungefähr war die Größe des Unterschiedes zwischen dem, was es sonst hier so gab, und dem, was L'Homme serviert hatte. Der Träger dieser Gabe saß mit vollgekleckerter Hose
und verschlissenem Leibchen vor mir und kommentierte jeden seiner Bissen mit dem Satz: „Schmeckt Njama Njama! – darum: Sauce Njama Njama.“ Papiz sprach auf Wolof mit dem verwirrten Meister und ich genoss schweigend: Auch der Fisch trug zur Vollkommenheit des Gerichtes bei. Vom Rückgrat aus verlief je eine Reihe Gräten nach oben und nach unten, bei den Flossen fanden sich kleine, übersichtliche Büschel von Gräten, die sogar ich mit einem Griff entfernen konnte. Es war der optimale Toubab-Fisch und er schmeckte fantastisch.
„Dorat“, erklärte Papiz mit vollem Mund. „Sehr gut.“
Ich nahm einen Schluck Bier und erzählte von meinem ersten Fischerlebnis im Senegal.
„Ouiii“, machte L'Homme. „Jigeen bi mokke podj!“
Papiz prustete.
„Was bedeutet mokke podj?“
L'Homme tobte vor Lachen. „Mokke podj, mokke podj“, gackerte er, warf mir unverschämte Blicke zu und wackelte mit seinen dürren Hüften.
Papiz ging die Sache etwas gefasster an und meinte kichernd: „Mokke podj ist eine Frau, die gut ist für ihren Mann.“
„Aha. Und was ist dann Gourgoulou?“
L'Homme war außer sich. Mein chi-nesischer Humor war eindeutig zu viel für ihn, jedenfalls hätte ich sonst was sagen können – er lachte hysterisch und hatte seinen Spaß. Aber sein Gelächter war ansteckend. Wieder so eine Gabe. L'Homme lachte und jeder lachte. Papiz hatte entsprechende Mühe, eine artikulierte Erklärung zum Thema Gourgoulou abzugeben, und auch ich wand mich inzwischen auf meiner Bank. Ich hatte den Mund voll Fisch und die Blase voll Bier und ich fühlte mich wie ein Sechzehnjähriger mit einem Lachkrampf vom Pot-Rauchen.
Gourgoulou, führte Papiz schnaufend aus, war der Held einer Fernsehserie, ein dicklicher Tölpel mit einem roten Fes, der immer versuchte, alles zur Zufriedenheit seiner monsterfetten Frau Ćen zu erledigen, und natürlich immer alles verbockte. L'Homme war aufgesprungen und unterstützte Papiz Vortrag mit einer pantomimischen Darstellung von Gourgoulou und Ćen. Er riss seine Augen auf, bis sie fast aus ihren Höhlen purzelten, stolzierte mit aufgeblähten Backen umher und demonstrierte alle wichtigtuerischen Aktivitäten des verkörperten Gourgoulou, die abrupt endeten, als sich der dürre L'Homme in die fette Ćen
verwandelte, die ihrem Mann mit einem Elan den Kopf wusch, der sogar die Kellnerin vom Vormittag als anschmiegsames Kätzchen erscheinen ließ. L'Homme sah aus wie der magersüchtige Bruder von Louis Armstrong auf Speed und obwohl ich Mühe hatte, mir nicht in die Hosen zu pissen vor Lachen, war die überdrehte Posse ziemlich traurig. Da saßen sie, L'Homme und Papiz, enteignet, hoffnungslos und versoffen und lachten, als wären sie hier die Urlauber und romantischen Flaneure.
L'Homme setzte sich wieder und fragte mich unvermittelt: „Du kannst sie nicht vergessen, Chi-nese, was?“
„Pardon?“
„Pardon, pardon – die Linke wäscht die Rechte – pardon ... die Frau natürlich.“
„Ja“, sagte ich, „Du hast recht.“
„Natürlich habe ich recht! Ich kenne mich aus mit Frauen. Sie setzen sich in deinen Kopf und da sind sie dann. So ist das.“
Ich lächelte. „Ja, so ist das.“
„Gib acht, Chi-nese Chi. Eine Frau ist nie allein im Senegal. Sie hat eine Mutter, vier Brüder, sechs Schwestern, acht Tanten und einen Vater. Zusammen sind das mehr Flüche, als ein großer, blasser Chinese vertragen kann.“
„Hab ich mitgekriegt.“
„Ah ja?! Das hast du mitgekriegt? Wie Chi-nese Chi? What do you think, what do you say?“
Also erzählte ich ihnen die ganze Geschichte. Ich erzählte L'Homme und Papiz, wie es nach dem Fisch weitergegangen war. Ich erzählte von der Kirche, vom Tanz, dem Kuss, den Tanten und dem Geld.
„Du bist ein stürmischer Chi-nese, Chi“, meinte L'Homme, als ich zum Ende gekommen war.
„Was wirst du machen?“, fragte Papiz.
„Ich weiß es nicht.“
„Und ich weiß es schon, Chi-nese Chi. Du wirst heimfahren und sie vergessen.“
Papiz und ich hatten L'Homme bei französischen Freunden abgeliefert, die er für seine Party gewinnen wollte, und hörten ihn noch ein ganzes Stück die Straße hinunter lachen und johlen. Er war wieder voll in Fahrt gekommen und mühte sich redlich, seine Rekrutierungsmaßnahmen, mit denen er seine Party vorbereitete, als einen riesigen Spaß erscheinen zu lassen. Das Problem aber war, dass jeder in Saly eine Silvesterparty gab. Also war um jene Gäste, die sich aus den Hotels hinauswagten, oder die selbst ein Ferienhaus in Saly besaßen, ein regelrechter Entertainmentkampf entbrannt. „Come see me shop, come see me shop“ reichte in diesem Fall nicht mehr. Man musste die Leute mit aller Kraft überzeugen, dass sie nirgendwo ein besseres Fest erleben würden. Auch wenn man keinen Anwalt zu bezahlen hatte, war das Geschäft zu Silvester existenziell wichtig. Schaffte man so viele Gäste ran, wie man versorgen konnte, hatte man eine rosige Zukunft vor sich. Vier gesicherte Wochen, vielleicht sogar sechs. Wenn nicht, saß man auf einem Haufen verrotteter Hummer und tat gut daran, die Stadt zu verlassen. Kredit gab es dann bei niemandem mehr.
Papiz und ich gingen eine gesichtslose Straße entlang auf eine fahle Insel aus Neonlicht zu – das Tele Centre des Village Indigène. Es bestand aus Wellblech, Karton und Hasendraht und klebte an einem einstöckigen Gebäude, in dem der Bürgermeister des Village Indigène von Saly lebte. Von den drei Sprechkabinen war nur eine in Betrieb und es hatte sich eine Traube von Leuten vor dem Centre gebildet. Trotzdem mussten wir nicht warten. Eine gelangweilte junge Frau bedeutete uns einzutreten und betätigte den Zählerknopf. Das lag nicht etwa daran, dass ich Weißer war und bevorzugt behandelt wurde. Die Leute interessierten sich einfach nicht für das Telefon. In einem grell beleuchteten Extrazimmer – der geschäftstüchtige Bürgermeister hatte eigens in sein Stiegenhaus durchbrechen lassen, um genug Platz zu schaffen – befand sich die eigentliche Sensation des Centre: eine Play Station. Für wenige hundert CFA konnte man an FIFA 2000-Turnieren teilnehmen und kleinere Geldbeträge gewinnen. Die meisten Leute hier waren aber nur Zaungäste und gingen der gelangweilten Tele Centre Frau auf die Nerven. Papiz zwängte sich in die Kabine und rief bei Yadikon an, um Assane über den Stand der Dinge zu
informieren. Alles, was ich zu tun hatte, war, die Sicht auf den Bildschirm nicht zu verstellen. Das grelle Licht der Neonröhren schmerzte in meinen Augen und um mich drängte und schob ein Durcheinander jugendlicher Köpfe, Arme und Schultern, ein Geflecht von jungen Körpern, hin und her strömend im Sog der Spielkonsole. Für die Jungen hier war es offenbar normal und akzeptabel, ihre Zeit in Knäueln zu verbringen. So lebten sie, so aßen sie, so warteten sie. Dicht an dicht, ständig auf Tuchfühlung miteinander. Ich gehörte nicht in diesen Organismus.
Im Inneren der Kabine sprach Papiz in einem ungewohnt aufgeregten, blubbernden Wolof und was auch immer er mit Assane verhandelte, es machte ihn nicht glücklich. Schließlich schob er die Türe der Kabine auf und der Knäuel aus schwarzen Jungs kullerte in Richtung der Telefonfrau. Einer der Burschen stieß ihren Bleistifthalter um und es gab eine ordentliche Szene. Die junge Frau war hübsch wie fast alle Frauen hier und zeigte, wer im Centre der Chef war. Es nützte ihr nur nichts.
„Und – alles ok in Dakar?“, fragte ich Papiz, als wir wieder draußen waren.
„Ja, ja, alles ok.“
Papiz ging bedrückt neben mir her. Es war dunkel, die Straße war voll fauliger Pfützen – Ziegenpisse, Abwasser, Blut – wer konnte es wissen. Ich hielt meine Blicke am Boden und trat nur auf jene Stellen, die im Mondlicht hell und trocken aussahen.
„Was ist los, Papiz?“
„Ich wollte, dass Assane morgen kommt, um uns zu helfen. Aber er will nicht.“
„Das sieht ihm nicht ähnlich.“
Papiz seufzte. „Er ist sauer auf uns. Er hat uns Geld organisiert und jetzt denkt er, L'Homme hat alles verbockt. Er meint, wir sollen uns allein aus der Scheiße ziehen. Aber L'Homme ist kein Geschäftsmann. Er braucht jemanden wie Assane, der das Business versteht.“
„Was ist mit Gaucher?“
„Gaucher hat sein eigenes Restaurant, seinen eigenen Sohn, seine eigene Frau. Im Grunde sind er und L'Homme Konkurrenten, seit es das maison culturelle nicht mehr geben kann.“
Die Lage war recht kompliziert. Papiz und L'Homme wollten offenbar, dass Assane das Chez L'Homme
Tranquille managte, weil sie sonst keine Chance sahen, sich in Saly zu halten. Gaucher hingegen half L'Homme, obwohl er kein großes Interesse an blühenden Geschäften des verrückten Koches und Entertainers haben konnte. Noch weniger Interesse schien er aber daran zu haben, sich mit Assane einen wirklich ernsthaften Mitbewerber ins Nest zu setzen. Vielleicht half er L'Homme ja nur, weil er wusste, dass der verrückte alte Mann ohne Assanes dauerhafte Hilfe keine Chance haben und aus Saly verschwinden würde. Vermutlich war es so, wie Papiz gesagt hatte. In Saly arbeitete jeder gegen jeden, obwohl alle in einem Boot zu sitzen schienen.
„Gehen wir irgendwo was trinken.“
„Wir können L'Homme bei Madame Mariani besuchen. Da gibt's bestimmt nicht zu wenig zu trinken.“
Madame war ein Fiasko. Sie war Mitte fünfzig, ihr blondiertes Haar war hochgesteckt und hing wie fette Nudeln um ihr Gesicht. Ihre Augen sahen aus gut dreißig Jahren Alkoholismus zu uns auf, ihre schlaffen Brüste hingen halb aus einem Negligé, das aussehen sollte, als wäre es aus Satin, vermutlich aber aus Regenschirmseide war. Papiz griff sie zur Begrüßung in den Schritt und murmelte: „Ça va, mon grand“. Ich kam mit einem „Bonsoir, belle baguette“ davon.
Das Haus Mariani lag in der Nähe meines Campements und war eines der privaten Ferienhäuser, die hier von Franzosen gebaut worden waren. In Hotel Ville selbst gab es auch für französische Privatbauherren keine Parzellen, die schwarzen Fischer, Schnitzer und Gigolos des Village Indigène noch ein bisschen weiter zu verdrängen, war aber offenbar kein Problem. Die Gigolos waren in diesem Kampf um die petite côte naturgemäß die standhaftesten Schwarzen im Village Indigène; sie ließen sich nicht vertreiben – sie zogen ganz einfach in die neuen Häuser ein. In Madames Fall war es ein etwa 25-jähriger Bursche, der mit provokantem Blick an einem Tisch im winzigen Garten saß. Neben ihm hing L'Homme in einem Sessel und sang, etwas
abseits saß ein vielleicht 30-jähriger Weißer, vermutlich Madames Sohn. Er hatte Schuppen und sah wenn möglich noch beschissener aus als seine Mutter: bleich, pickelig und mit der Ausstrahlung eines räudigen, tollwütigen Rehpinschers. Im Gegensatz zur Jammergestalt ihres leiblichen Sohnes war der Lover offenbar der fleischgewordene Traum jeder versoffenen Mittfünfzigerin. Er saß lässig und präpotent hingefläzt in seinem Gartensessel, die verstärkten Schultern einer bombastischen Lederjacke überragten seine schlanke Gestalt und ließen seinen Kopf klein erscheinen. Sein Haar trug er zu dornenartigen Minirastas gedreht, seine Augen leuchteten rot vom Dope, den Tabletten, dem Schnaps und was Madame sonst noch zu bieten hatte. Er grinste Papiz an wie eine Hyäne und goss sich ein Wasserglas mit Gin voll. BEST stand auf dem Etikett.
Madame wuchtete sich in einen Liegestuhl, ihr grau-schwarzer Busch lag entblößt vor uns. Entweder merkte sie es nicht oder es war ihr egal. L'Homme sprang auf und stürzte um Haaresbreite in eine Plastikwanne, die so etwas wie ein Pool sein sollte. Er hatte uns erst jetzt erkannt.
„Papiz! Stürmischer Chi-nese! Wie gut, dass ihr kommt! Wir haben ein Fest!"
Er war jetzt ernsthaft voll. Die Gigolohyäne hatte ihn reichlich mit Fusel versorgt und L'Homme war nicht mehr in der Lage, eine traurige Katastrophe von einem Spaß zu unterscheiden.
Der Sohn erhob sich mürrisch, auch er hatte seine eigene Gin-Pulle und murmelte etwas wie: „Jetzt kommen da noch mehr Nigger saufen“, worauf hin er verschwand.
Die allgemeine Meinung war offenbar, dass er das nicht gesagt hatte, und ich hatte keinen Grund, ihn dafür zu vermöbeln. Mich hatte er bestimmt nicht gemeint.
„Ça va Papiz“, gurgelte der Gigolo. „Gin?“
„Gerne.“
Der Gigolo schlurfte ins Haus, offenbar war es hier Sitte, BEST nur in Flaschen zu reichen. L'Homme lag inzwischen im Gras und sang wieder, ein Mal lachte Madame sogar über ihn.
„Ça va“, sagte der Gigolo beiläufig zu mir, als er eine Flasche mit zwei Gläsern vor uns auf den Boden stellte. Dann begann er, auf Wolof mit Papiz zu sprechen. Beide tranken zügig, ich hatte nach dem ersten Schluck genug. Madame kratzte sich an der Scham und grölte zu ihrem Boy hinüber, er solle nicht in dieser verdammten Sprache reden, sie
verstehe kein Wort. Also sprachen Papiz und Ras, wie sich der stachelige Rammler nennen ließ, leise auf Französisch weiter. Papiz versuchte, ihm eine fixe Zusage für L'Hommes Party abzuschwatzen, aber Ras verlangte dafür mehr, als Madame und ihr räudiger Sohn als All-inclusive-Preis für den Abend zu zahlen hatten. Madame verstand nichts von dem Geflüster der beiden und L'Hommes Gesang oder Geschrei oder wie man es nennen wollte ging ihr offenbar auf die Nerven, also brüllte sie: „Was ist Ras? Au travaille, au travaille!“
Papiz und Ras machten rasch den Handel klar – Ras würde gratis essen und den Eintrittspreis für eine Person in bar erhalten, dafür brachte er seine Baguettes zur Fete. Dann verschwand er im Haus, wo er Madame geräuschvoll fickte. L'Homme war eingeschlafen.
„Mann Papiz, was sind das denn für Typen?“
„Ach, das sind alte Kumpels von L'Homme. Sie kommen auch zur Party.“
„Hab ich mitgekriegt.“
Im Haus hörte man jemanden kotzen. Ich wünschte Ras von Herzen, es möge Madame gewesen sein.
Am nächsten Morgen wurde ich durch sachtes Klopfen an meiner Tür geweckt. Ich wuchtete die Füße aus dem Bett und erhob mich. Es ging mir erstaunlich gut. Ich hatte gestern nicht mehr als zwei Bier und einen Schluck BEST Abflussreiniger gehabt und fühlte mich gänzlich unverkatert. Ein Zustand, dem ich in Afrika inzwischen klar den Vorzug gab. In Unterhosen öffnete ich die Tür und stand vor Mamebirane, dem Bonsai-Mann.
„Hi Mamebirane, herein. Kaffee?“
„Ja, mit Vergnügen.“
Mamebirane trug wieder seinen fadenscheinigen Anzug und benahm sich so bescheiden, als wäre er in meinem Land zu Gast.
„Toogal, Mamebirane. Ich machen Kaffee.“
Mamebirane lächelte und sagte mit sanfter Stimme: „Sie sprechen Wolof! Das ist wunderbar.“
Ich hatte gestern Abend eine Kaffeemaschine in meiner Küche entdeckt, in einer Dose gab es Kaffeepulver, das noch frisch und kräftig roch. Jedenfalls konnte ich mir und Mamebirane einen angenehmen Start in den Tag verschaffen. Während wir Kaffee tranken, fand ich heraus, dass es abgesehen von einigen zuvorkommenden Phrasen mit Mamebiranes Französisch nicht weiter her
war als mit meinem. Englisch ging gar nicht. Ich versuchte trotzdem, in Erfahrung zu bringen, was ich für ihn tun konnte, aber alles, was Mamebirane mir sagen konnte, war, dass er den ganzen Tag Zeit hatte und ich sagen sollte, was mich interessierte. Vermutlich glaubte er, er wäre mein Guide und gedachte, am Abend tüchtig abzukassieren. Wenn dem so war, wollte ich es am besten gleich herausfinden.
„Ok“, sagte ich, „gehen wir zu Centre du Bonsai Baobab.“
Mamebiranes Augen leuchteten auf: „Ja, mit Vergnügen. Das ist wunderbar.“
Das Centre du Bonsai Baobab selbst lag keine 20 Meter hinter Gauchers Restaurant und Mamebirane füllte damit eine sehr behagliche Marktlücke aus. Ein schmaler, strohgedeckter Durchgang führte zwischen zwei freundlich geweißten Häusern in einen sonnigen Hinterhof, in dessen Mitte Mamebiranes Bonsai-Pavillon stand. Im Wesentlichen handelte es sich dabei um eine runde Hütte aus Stöcken und Strohmatten, in der ich zwar nicht aufrecht stehen konnte, die aber mit Sitz- gelegenheiten, Schautafeln zum Thema Bonsai und einigen Bildern sehr gemütlich ausgestattet war. Mamebirane führte das kleine Unternehmen gemeinsam mit einem jungen Maler, der die Schautafeln gestaltet und die Bilder gemalt hatte; das Center du Bonsai Baobab diente ihm auch als Atelier. Wir trafen Moussa – so hieß Mamebiranes Partner – im Garten des Bonsai-Center, der einen Großteil des sonnigen Hofes ausfüllte und nur durch den Pavillon erreichbar war. Moussa war gerade damit beschäftigt, lange Reihen kleiner Blumen- töpfe zu ordnen, in denen später Bonsai Baobabs verkauft werden sollten. Wie sich zeigte, sprach Moussa Englisch und Französisch und teilte mir in beiden Sprachen freundlich mit, dass er sich über meinen Besuch freute.
„Ich finde Ihre Idee mit den Bonsai Baobabs sehr gut. Eine Marktlücke.“
„Danke, es war Mamebiranes Einfall. Niemand sonst nimmt sich die Zeit, so etwas zu machen. Es dauert länger, einen winzigen Baum zu ziehen, als ein Stück Holz zu beschnitzen und mit Schuhpaste einzuschmieren. Dafür sind wir die Einzigen, die Bonsai Baobabs verkaufen, während alle anderen nur die echt antiken Ebenholzfiguren anbieten.“
Mamebirane hatte sich in einem Winkel seiner Hütte an die Zubereitung einer typisch senegalesischen Frühstücksspezialität gemacht und Moussa erklärte mir mit vergnügtem Zwinkern, dass es sich dabei um etwas handelte, das Thiakry hieß und mich schön kräftig machen würde.
Zur Herstellung dieses Wunders hatten wir unterwegs eine kleine Flasche Orangenaroma erworben, das aus China stammte, fast ausschließlich aus künstlichen Aromen, Zusatz- und Ersatzstoffen bestand und meinem Verständnis davon, was „typisch senegalesisch“ war, nicht sehr entgegenkam. Als Mamebirane mir das merkwürdige Fläschchen zurückgeben wollte, nachdem er einen Tropfen davon in ein Gemisch aus Joghurt, Kondensmilch und Rosinen gespritzt hatte,
wehrte ich ab und Mamebirane nahm das Geschenk an, als wäre es ein Schatz. Dann widmete er sich wieder ganz der Zubereitung unseres Thiakry. Moussa machte einstweilen die Konversation:
„Sie sind ein Freund von L'Homme, sagt Mamebirane.“
„Naja, ich helfe ihm ein wenig bei seinem Fest.“
„Das ist gut, L'Homme ist sehr lustig. Was hat Sie in den Senegal geführt? Machen Sie Urlaub?“
„Tja, eigentlich wollte ich das, aber es ist eher eine Reise geworden. Ich bin noch nicht ganz sicher, wie sie ausgehen wird.“
„Das klingt gut.“
Mamebirane servierte schließlich unser Thiakry – eine Art süßes Hirsebreimüsli – in kleinen getöpferten Schalen, die wir im Sitzen auf den Knien balancierten, wie Briten ihren Tee. Er selbst aß nichts, sondern saß mit gefalteten Händen in einem klapprigen Liegestuhl und beobachtete Moussa beim Essen seines Hirsebreis. Moussa sah sogar für senegalesische Verhältnisse sehr gut aus und die Art, wie Mamebirane ihn anlächelte, ließ im Grunde nur einen Schluss zu: Ich war hier in einer schwulen Gärtnerei gelandet. Die Akzeptanz gegenüber Homosexuellen war im Senegal vermutlich nicht besser als in Österreich und nach meinem gestrigen Besuch bei Madame war ich eigenartig berührt davon, dass hier zwei Menschen mit großer Freundlichkeit und gegen alle Konventionen ihre Vorstellung von Liebe verwirklichten. Jedenfalls fühlte ich mich wohl bei den beiden Zwerg- baumzüchtern und war über ihre Gesellschaft froh.
Draußen hatte Moussa eine Kanne Ataya aufgesetzt und der Duft von trockenem Stroh, wurmstichigem Holz und frischer Erde vermischte sich mit dem warmen Aroma des Tees. Mamebirane brachte eine Karte von Saly und Umgebung in den Garten, wo wir auf einem steinernen Mäuerchen saßen, und
Moussa zeigte mir einen Ort namens Somone, den zu besuchen Mamebirane herzlich empfahl. Am Weg zurück könnten wir – wenn es für mich möglich war – nahe von Mbour halten und einige Verwandte von Mamebirane mitnehmen, die wie er aus der Casamance stammten und bei L'Hommes Fest spielen könnten. Obwohl ich meinen Wagen bereitwillig angeboten hatte, war es für Mamebirane offenbar sehr peinlich, das Angebot auch anzunehmen.
„Sehr gerne, Mamebirane“, sagte ich, „Amul solo.“
Moussa gab mir klatschend die Hand und meinte: „Sie sprechen Wolof! Wie ist ihr Name in Afrika?“
„L'Homme nennt mich ‚der Chi-nese’“. Niemand sonst hatte mir einen afrikanischen Namen gegeben.
„Der Chi-nese?“
„Mein Spitzname ist Chi, da hat L'Homme gemeint, ich wäre ein Chi-nese.“
„L'Homme ist verrückt.“
„Er hat einen sehr traurigen Job.“
„Ja. Die meisten glauben es ist lustig“, sagte Moussa ernst. „Aber Sie haben recht. Es ist traurig.“
Somone ließ den prächtigen Strand von Saly aussehen wie das gepflasterte, vollgepisste Ufer der Donauinsel bei der Reichsbrücke. Es gab hier nur ein großes Ressort mit einem abgegrenzten Badebereich, der Ort selbst zog sich der Hauptstraße entlang nach Süden und der nördliche Strand von Somone war völlig unverbautes Küstenland. Ein Fluss mündete in einem Labyrinth aus Sandbänken und Wasserarmen in den Ozean und ließ den Eindruck entstehen, Land und Wasser würden ineinanderfließen. Das Hinterland war flach und zog sich bis zum Horizont – ein Meer aus dürrem Gras. Um uns drängte der Ozean sanft in den Fluss und der Fluss sanft in den Ozean, die weichen Dünen unter unseren Füßen waren eine unscharfe Grenze zwischen den Elementen. Wenn es einen Ort gab, der aussah wie Ruhe und Frieden, dann war das vermutlich der Strand von Somone.
Die einzige Erhebung, ein vielleicht drei Meter hoher Erdrücken, zog sich aus der struppigen Vegetation der Küste bis zum Wasser, wo er in einer steinigen Landzunge endete. Dort erkannte ich in der flirrenden Hitze eine windschiefe Hütte, einen Tresen mit Dach vielmehr, vor dem einige selbst gebastelte Sonnendächer aus Stroh im Wind
flatterten. Scheinbar handelte es sich um ein „Strandcafé Indigène“ und Moussa steuerte es direkt an. Leider lag es auf der anderen Seite der verzweigten Flussmündung und weder Tiefe noch Sog der verästelten Wasserläufe, die unseren Weg kreuzten, ließen sich halbwegs zuverlässig einschätzen. Moussa war davon wenig beeindruckt und lenkte mit einem gellenden Pfiff die Aufmerksamkeit des Personals auf uns, woraufhin sich ein halbwüchsiger Bursche auf den Weg machte, uns durch das Minidelta auf die Landzunge zu lotsen. Obwohl das Café keine 50 Meter Luftlinie von uns entfernt lag, dauerte es gute 5 Minuten, bis uns der Junge über jene verschlungenen Pfade erreicht hatte, die ihm die wenigen passierbaren Stellen in den Wasserarmen vorgaben. Das Wasser war zwar nirgends mehr als knietief, trotzdem schien die Strömung beachtlich.
Das Café selbst war großartig. Alles, abgesehen von einer Kühltruhe aus den 50er Jahren, in der ein Eisblock Getränke kühl hielt, war aus Fundstücken und Müll zusammengebaut worden: Der Tresen und die löchrige Rückwand waren aus Kistenbrettern gezimmert, das Schilf für das Dach stammte aus dem Gestrüpp im Hinterland, Tische und Sessel bestanden aus unbehauenen Holzscheiten. Wir ließen uns unter einem der Sonnendächer nieder, dem ein verwachsener Ast als Ständer diente, das Dach war ein mit Draht gebundenes Gitter aus Holzstöcken, auf das Schilf gezurrt worden war. Der Ataya, den Moussa bestellt hatte, wurde auf einer umgedrehten Obststeige serviert, die daraufhin als Tisch Verwendung fand. Ich vergrub meine Füße im Sand, um sie vor der stechenden Sonne zu schützen – das Sonnendach war keinen Quadratmeter groß.
Das Meer funkelte, gelegentlich wehte der Wind einen kühlen, salzigen Hauch über uns und Mamebiranes Zehen schoben sich im Sand an Moussas glatte Waden heran. Moussa sah gut aus und er wusste das. Sein Körper war athletisch, flache, lebhafte Muskelgruppen definierten seine Gestalt, gelegentlich straffte ein fordernder Zug sein freundliches Gesicht. Er war eine erotische Provokation und Mamebirane war voll in seinem Bann. Aber Moussa war eitel genug, seine Pracht und Geschmeidigkeit auch für mich zu präsentieren. Mit sechzehn war ich immer wieder von Schwulen hofiert worden und hatte dabei keine Erfahrungen gemacht, die mich unlocker auf das verhaltene Posieren des schönen Moussa hätten reagieren lassen. Mamebiranes Zehen hatten ihr glattes, muskulöses Ziel erreicht und Moussa ließ ihn gewähren, während er einen dicken Joint drehte. Der Rauch stieg in den wolkenlosen Himmel, das Gras knisterte wie ein winziges Lagerfeuer und der orange Saum der Glut leckte träge am Papier. In Wien hatte mir die Kifferei, egal ob Gras oder Dope, zuletzt nur noch dunkle, träge Depressionen beschert. Hier aber vermischten sich meine Gedanken leicht und fließend mit der Umgebung,
ähnlich wie Land und Meer einander um mich durchdrangen. Ich legte mich auf den Rücken, niemand sprach. Als Moussa mir das nächste Mal den Joint weiterreichte, hielt er meine Hand für einen Augenblick fest und wartete. Ich sagte „Jërajëf“ und Moussas Hand zog sich zurück. Eine richtige Abfuhr hatte er nicht nötig. Nach einem Moment setzte ich mich auf, nichts hatte sich verändert. Mamebirane saß bloßfüßig in seinem bescheidenen Anzug im Sand, Moussa blickte cool und männlich aufs Meer hinaus und ich gab den Ofen weiter. Kein Stress, keine Krisen, wir waren einfach nur drei Männer an einem Strand.
„Ich werde eine Runde schwimmen gehen.“
„Bitte“, meinte Moussa gönnerhaft. Für Senegalesen war es lächerlich, schwimmen zu gehen. Sie gingen nur ins Meer, um Ziegen oder Pferde zu waschen. Darüber hinaus war es Kindern, Fischen und Toubabs vorbehalten.
Als Mamebirane meine Absichten erkannte – ich hatte mir ein Handtuch um die Hüften geschlungen und zog von einem Bein aufs andere hüpfend meine Badehosen an – wurde er sehr nervös und redete eindringlich auf Moussa ein.
„Was ist los?“
„Mama Birane lässt dir ausrichten, du sollst nicht weiter reingehen, als bis zur Hüfte. Das Wasser ist hier sehr lebendig, aber du wirst schon sehen.“
Mama Birane. Ich mochte Moussas Humor.
Im Wasser zeigte sich allerdings, dass ich besser auf Mama Birane gehört hätte. Der Sog der Gezeiten und der Druck der Mündung erzeugten unberechenbare Strömungen, die den Boden ausgewaschen hatten und mit der Kraft eines reißenden Gebirgsbaches an meinen Beinen zerrten. Ich stemmte mich kaum bis zur Hüfte im Wasser stehend gegen einen ablandigen Strudel, als sich plötzlich der Sand unter meinen Füßen zu verflüssigen schien und ich
fortgespült wurde wie ein Zweig. Der ablaufende Fluss und das herandrängende Meerwasser brachen in tückischen Wellen an einander, ich geriet zwischen die Wassermassen und der kalte Ozean schlug über meinem Kopf zusammen. Das Wasser schoss in meine Nase, die Atemnot stach in meinen Lungen, ohne Orientierung wurde ich ein Stück weit abgetrieben. Als ich unvermittelt mit dem Becken gegen eine hart gepresste Sandbank krachte, grub ich hysterisch Zehen und Finger in den Grund, riss meinen verkifften Schädel aus dem Wasser und fand rudernd und um mich schlagend Tritt auf einer der Küste vorgelagerten Düne. Ich rieb mir das Wasser aus den Augen, blies Sand und Schlamm aus meiner Nase und stellte fest, dass mein Unfall vollkommen lächerlich ausgesehen haben musste. Der Strudel hatte mich keine zwanzig Meter die Küste entlanggetrieben und dann auf einer Sandbank zehn Meter vom Ufer entfernt abgesetzt. Zwischen mir und dem hellen Strand floss blau und unschuldig ein Wässerchen von der reißenden Gefährlichkeit einer gefüllten Badewanne. Auf der ablandigen Seite warf der Ozean hie und da weiße Gischt auf, aber solange man nicht mit dem Kopf unter Wasser darin herumgeschleudert wurde,
nahm sich auch diese Urgewalt sehr idyllisch aus. Vor dem Café sprang Mamebirane auf und ab, vor seinem geistigen Auge trieb ich offenbar schon mit gedunsenem Bauch Richtung Amerika. Daneben formte Moussa mit seinen Händen einen Trichter um den Mund und brüllte: „Bist du ok?“
„Ja“, hustete ich zurück, „Mama Birane hat allerdings recht gehabt!“
Meine Evakuierung von der Sandbank war ein ziemlich erniedrigendes Spektakel. Der Junge vom Café ruderte ein sehr eigentümliches Wasserfahrzeug zu mir herüber, wobei er sich das Lachen kaum verkneifen konnte. Bleich, nass, hängende Schultern, Sand in der Hose – ich war der dümmste anzunehmende Urlauber und das Wasser umspülte freundlich meine Zehen. Aber auch mein Retter bot einen einigermaßen grotesken Anblick. Er saß mit seinem Paddel auf einem billigen Stahl- rohrsessel, der auf ein vorsintflutliches Surfbrett geschraubt worden war. Die ganze Konstruktion hatte vermutlich die Verdrängung eines mittleren Hausbootes und war schwer zu manövrieren. Der Junge schlingerte mit seinem bestuhlten Surfer über den Wasserarm, der mich vom Ufer trennte, und ließ sich an meine Sandbank herantreiben.
Nachdem sich die Spitze des Surfbretts in den Sand vor meinen Füßen gegraben hatte, forderte er mich auf, rittlings am Bug Platz zu nehmen und ruderte mich zurück. Gleichmütig folgten mir alle anwesenden Augenpaare. Vielleicht hatten wir Toubabs Kreditkarten und Handelsmonopole und alle Möglichkeiten, unsere Herrschaftsansprüche überall auf der Welt durchzusetzen, aber wir waren weiß. Weiß und ungelenk wie fette Maden, unsexy, dumm und nicht in der Lage, irgendetwas halbwegs würdevoll hinzukriegen. Das war ein hoher Preis, den niemand hier gerne bezahlt hätte.
Mamebirane war zu aufgeregt, um länger am Strand zu bleiben, und auch ich hatte keine Lust, mich in meinem frisch gewonnenen Ruhm als größter Depp am Strand zu sonnen, also machten wir uns auf den Weg nach Mbour. Meine Füße waren in Salz und Sand paniert und bloßfüßig Auto fahren ist nicht mein Ding. Am Weg zurück zu unserem Wagen betrat ich vom Strand her die Hotelanlage und spülte mir in einem dafür vorgesehenen Becken die Beine ab. Das veranlasste einen wichtigtuer- ischen Schwarzen in der Uniform eines Hotelburschen an uns heranzutreten und auf Französisch die Frage an mich zu richten, ob wir Gäste des Hotels wären. Ich verneinte und wies daraufhin, dass ich mir hier lediglich meine Schuhe anzog. Dennoch wurde ich in sehr herablassendem und drängendem Tonfall aufgefordert, das Hotelgelände mit meinen Boys sofort zu verlassen. Mamebirane nahm sanft meinen Arm und zog mich weg. Als wir einige Meter weit weg waren, fauchte der Schwarze: „Verschwindet, ihr Schwuchteln!“, hinter uns her. Mamebirane hörte nicht auf, an meinem Arm zu ziehen, bis wir im Auto saßen. Moussa sah sehr finster aus.
Zurück in Saly kletterten die Trommler aus meinem Auto wie Pfaue. Zweifellos bedeutete es für sie einen bemerkenswerten Höhepunkt in ihrer Karriere, ihren Auftrittsort in einem klimatisierten Geländewagen zu erreichen. Die Gören am Strand des Village Indigène kicherten und stießen einander an. Es war ziemlich klar, wie sie meine Passagiere einschätzten. Wir hatten die sechsköpfige Truppe in einem kleinen Ort fast 40 Kilometer nördlich von Somone aufgesammelt, ihre folkloristische Adjustierung ließ mich an die Laamb-Groupies von Yayem denken. Sie hatten sich billige Plastikperlen in die Rastas geflochten, einer trug sein Haar über dem Kopf zusammengeschnürt und sah aus wie eine Ananas. Ihre Kleider bestanden nicht nur aus Gründen der Baye Fall-Tradition aus zahllosen Flicken, Ketten, Amulette und Modeschmuck im Look der 80er Jahre komplettierten einen eher kindischen Gesamteindruck. Sie waren Landeier und Saly war eine große Sache für sie.
Soweit ich das einschätzen konnte, war das Geschäft mit den Silvesterpartys bis weit in den Norden, wo die Küstenregion kein touristisches Kapital, sondern borstiges Ödland war, zu einer wichtigen Einnahme- quelle geworden. In jedem noch so kleinen Dorf gab
es Campements oder sogar ein Touristenressort und jeder, der eine Trommel halten oder ein paar Tanzschritte zeigen konnte, versuchte, sich als Abendunterhaltung anheuern zu lassen. Dement- sprechend war die Konkurrenz über die Feiertage für Musiker und Veranstalter gleichermaßen hart. Jeder Veranstalter brauchte eine Band, jede Band brauchte einen Veranstalter; der Trick bestand darin, als Musiker so zu tun, als hätte man schon ein Engagement, um den Preis hochzutreiben, während jeder Veranstalter behauptete, bereits seine Band zu haben, um noch billigere Angebote zu bekommen. Wenn Mamebiranes Verwandte nur halb so höflich waren, wie er selbst, konnten sie in diesem Gerangel keine Chance gehabt haben. Jedenfalls waren sie am Silvesterabend noch frei und L'Homme hatte sein Unterhaltungsprogramm.
Für die Band war der Ausflug nach Saly jedenfalls mehr als nur eine Notlösung. Die Gage für den Festtag selbst war zwar niedrig aber fix, den heutigen Abend hatten sie frei, um in Saly Geld zu verdienen. Also machte sich Moussa widerwillig mit unserer Hinterwälder-Combo auf den Weg Richtung Hotel Ville, Mamebirane wollte nicht riskieren, dass sie als Erstes der A.S.A. in die Arme liefen und die
beiden größten Tage ihrer Karriere in der Anhaltezelle des Sicherheitsdienstes verbrachten. Er selbst begleitete mich ins Village Indigène, wo ich Plastikfolie kaufen wollte; morgen in der Früh sollte ich mit L'Homme und Gaucher nach Mbour zum Markt fahren, um Fisch und Meeresfrüchte für den Abend zu kaufen. Ich war mir sicher, dass ich mein Geld für den Selbstbehalt von Hertz nicht zurückbekommen würde, wenn ich einen Wagen retournierte, dessen Kofferraum nach den verwesenden Überresten von Hummer für vierzig Personen roch.
Es war dämmrig und ich ging neben Mamebirane durch die gesichtslose Siedlung des Village Indigène. Die Stimmung im Dorf war angespannt. Über die Feiertage war Saly Hotel Ville bis auf die letzte Besenkammer ausgebucht, man konnte das Geld förmlich durch Saly rauschen hören. Und dieses Geräusch drückte auf die Stimmung derer, die den tosenden Umsatz nur in Form des fröhlichen Gelächters, der knallenden Korken und der wummernden Discobeats mitbekamen, die der Wind von Hotel Ville herüberwehte. Jeder im Village hoffte darauf, wenigstens irgendein Geschäft zu machen, und von allen Seiten kamen Händler, Rasta und Behinderte auf uns zugerannt oder gehumpelt und im Gedränge um einen Platz an meiner Seite kam es fast zu Handgreiflichkeiten. Ich konnte die Gesichter und Hände und Waren, die sich mir entgegenstreckten, kaum auseinanderhalten, ständig wechselten meine Begleiter und die Angebote, die mir gemacht wurden. Grob beraspelte Mörser, kleine Statuen, einzelne Tücher, Schlüsselanhänger – alles Mögliche wurde mir an den Körper gedrückt, in der Hoffnung, ich könnte wenigstens irrtümlich danach greifen, einige Jungen und Mädchen bettelten mit hohler Hand um
ein paar 100 CFA. Die Leute hier waren nicht arm; jedenfalls nicht in diesem TV-tauglichen Menschen-für-Menschen-Sinn. Es gab keine Hungerbäuche, keine Flüchtlingslager, keinen Bürgerkrieg. Aber das simple Gesetz der Profitmaximierung, das auch den kleinsten Gewinn am Village Indigène vorbeischleuste, zerrte an den Nerven und am Mut der Leute und ihr jammerndes „Mistah, Monsieur, Cadeau, Cadeau“ war das endlose Lied der Verlierer, die wir produzierten. Ich kramte meine Taschen leer und gab, was ich hatte. Das war falsch und idiotisch und es änderte nichts. Ich kaufte mich ganz einfach frei.
Mamebirane steuerte mich mit betretenem Lächeln aus dem Chaos der unaufhörlich an mir zupfenden Hände und führte mich zum Haus eines Bekannten, der uns Plastikfolie verkaufte.
Im Chez L'Homme Tranquille hockten L'Homme und Papiz verknittert bei dem kleinen Grill und ich wünschte ihnen von Herzen, dass sie sich an nichts mehr erinnern konnten; ganz egal, was gestern noch passiert sein mochte. L'Homme fühlte sich durch meine Anwesenheit verpflichtet, seine Faxen zu machen – für ihn war ich der Chi-nese und unser geheimes Stichwort war ‚Senghor on the Rocks’. Er riss gequälte Witze, ich lachte gequält. Es ging dem Meister nicht besonders gut. Seine Art von Promotion verschliss die Kräfte des alten Mannes. Mamebirane und ich nahmen beim Grill Platz und ich reichte Papiz einen kleingefalteten 5000-CFA- Schein für das Essen. Er nahm ihn still an und verwahrte ihn in seiner Hosentasche. Gestern hatte ich versucht, L'Homme höchstpersönlich zu bezahlen, aber er hatte sich geweigert, das Geld anzunehmen. Also hatte ich es Papiz gegeben, in der Hoffnung, er würde es in L'Hommes Sinn verwalten. Papiz starrte den Grill an, das Auge eines der Fische platzte auf; weiß, schaumig und zäh troff es aus seiner Höhle und verzischte in der Glut. Die Stimmung war schlecht.
L'Homme steuerte per Autopilot durch sein Klamaukuniversum und Papiz war mit hängendem
Kopf und gelb unterlaufenen Augen in seine Pflichten als Grillmeister versunken. Es war kühl, im Gebüsch rund um Chez L'Homme Tranquille rumorten Ratten oder Krabben, der triste Geruch von ausgeschwitztem Schnaps hing unter dem Schilfdach.
„Kannst du uns Geld geben?“, brach Papiz sein Schweigen.
„Wie bitte?“
„Wir brauchen Geld. Du kannst uns welches geben.“
„Ich habe dir gerade Geld gegeben.“
„Das ist nicht genug.“
L'Homme verkündete wieder einmal „Die Linke wäscht die Rechte“ und stellte ein Bier vor mich hin.
„Wofür braucht ihr Geld?“
„Für den ganzen Fisch und alles. Assane kommt nicht, also haben wir kein Geld für das Fest“, sagte Papiz zum Grill.
„Ich soll euch Kohle für ein Fest von vierzig Personen borgen?“
„Ja. Es würde uns sehr helfen.“
Ich war überrascht. Die Unverschämtheit dieser Forderung traf mich am falschen Fuß. Ich hatte mich als Verbündeten empfunden, meinen Wagen hergeborgt, versucht, die Probleme zu verstehen.
Ich hatte gedacht, L'Homme und Papiz und Mamebirane und jedem, der sonst noch dazugehörte, bei ihrer Arbeit zu helfen. Ich wollte nicht der Almosen-Typ sein. Aber es spielte keine Rolle. Alles, was man von mir wollte, war Geld.
„So viel habe ich nicht.“
„Wie viel hast du?“
„Nichts mehr.“
„Du kannst 300.000 CFA für einen Kuss bezahlen.“
„Dir kann scheißegal sein, wofür ich wie viel zahle. Ihr sauft euch hier das Hirn weg und am Tag vor dem großen Geschäft kommt ihr drauf, dass ihr kein Geld habt!“
„Es ist sehr, sehr wichtig. L'Homme verliert alles.“
Papiz war nicht aus der Ruhe zu bringen. Er sah mit traurigem Blick zu, wie sich die Flossen der Fische in der Hitze krümmten, der Schleim auf den Schuppen hatte sich zu einer bröseligen Kruste festgebrannt.
„Ich will nicht unfreundlich sein, ich hatte eine sehr gute Zeit hier, aber ich kann es mir nicht leisten, so einen Haufen Geld zu verlieren, nach allem, was passiert ist.“
„Du bist ein sehr guter Mensch, du hast gesehen, welche Schwierigkeiten wir haben. Bitte hilf uns.“
„Wie hättet ihr euer Fest organisiert, wenn ich nicht gekommen wäre?“
„Assane wollte uns das Geld geben.“
„Dann wird er es ja haben. Ich werde ihn anrufen.“
Papiz glotzte mich für einen Augenblick an: „Warum kannst du uns nicht einfach das Geld geben?“
Offenbar wollte er kein Geschäftsmann mehr sein. Er hatte die Schnauze voll – was ich verstehen konnte –, aber er wollte, dass ich das Wunder war, das ihn rettete. Und das war ich nicht.
„Waaw?“ Es war die kleine Frau.
„Chi spricht, ist Assane da?“
„Was?“
„Assane bitte.“
„Assane?“
„Ja, bitte.“
Schweigen.
Ich hatte L'Homme und Papiz mit ihrem Fisch zurückgelassen und mich auf den Weg zum Tele Center gemacht. Ich wollte wissen, was da schiefgelaufen war und ob es einen Weg gab, das Fest zu retten. Ich hatte keine Ahnung, was ein Silvesterfest mit einem Meeresfrüchte-Buffet im Senegal kosten konnte, aber selbst wenn Papiz es nicht glauben wollte, mein Überziehungsrahmen taugte für solche Investitionen bestimmt nicht.
„Waaw?“
„Hi, Assane. Chi spricht.“
„Chi!“ Assane klang erfreut. „Na nga def?“
„Maangi fi, rekk. Na nga def?“
„Maangi noos. Was gibt es, Chi?“
„Probleme.“
„Ich weiß.“
„Woher?“
„In Saly gibt es immer Probleme.“ Assane lachte.
„Da dürfte was dran sein.“ Es tat mir gut, mit Assane zu sprechen.
„Also, was ist los.“
„Papiz und L'Homme haben kein Geld, um morgen den Fisch und alles zu kaufen.“
„Und?“
„Ich kann das auch nicht bezahlen.“
„Wer sagt, dass du das sollst?“
„Papiz.“
Assane schwieg für einen Augenblick. „Es tut mir leid.“
„Was?“
„Sie sind Idioten. Gaucher hat das Geld.“
Einerseits war ich erleichtert. Andererseits ...
„Das müssten sie ja aber wissen.“
„Ja, natürlich.“
„Und trotzdem schnorren sie mich an?“
„Sie sind dumm. Sie saufen und sie sind verzweifelt. Und sie hätten eben gerne Geld.“
„Aber das ist doch verrückt, mich heute um Geld zu bitten, das sie morgen vor meinen Augen von jemand anderem bekommen werden.“
„Ich kann es dir nicht erklären. Das ist Saly. Bei Papiz ist das ein richtiger Reflex geworden.“
Ich war nicht wirklich sauer. Für Papiz und
L'Homme lief es schlechter, als es für mich jemals laufen konnte, und die Umstände, unter denen sie arbeiteten, waren lächerlich. Ich hätte auch keinen Antrieb verspürt, Pläne zu schmieden, wenn sich mit dem ersten anhaltenden Erfolg auch die nächste Enteignung einstellen würde. Trotzdem hatte ich für heute genug von den beiden und fühlte mich weit mehr nach einem kalten Bier als nach einem weiteren Auftritt als enttäuschendes weißes Wunder.
Im Chez Gaucher stand der Chef persönlich hinter dem Tresen und wischte Gläser ab. Das Lokal war gut besucht, aber die meisten Gäste waren Schwarze aus dem Village, die nur gekommen waren, um den miesen Gang der Geschäfte zu beklagen. Also gab es auch für Gaucher nicht viel zu servieren. Die kämpferische Kellnerin war nirgends zu sehen.
„Ah, Chi! Ça va?“, fragte Gaucher und bedeutete einem jungen Baye Fall, der mit einer Handvoll Muschelketten auf mich zusteuerte, mich in Frieden zu lassen.
„Ça va bien, Gaucher. Na nga def?“
„Maangi fi, rekk, jërajëf. Na nga def?“
„Maangi noos.“
Gaucher lachte. „Du bist schon ein richtiger Senegalese.“
„Na ja, es gibt viele, die das anders sehen.“
„Ah ja? Was ist passiert?“
„Nichts. L'Homme konnte mir keine Uhrzeit nennen, wann wir morgen zum Markt aufbrechen.“
„Ist 06:00 ok für dich?“
„Wird schon gehen. Du hast das Geld?“
Gauchers Augen wurden ein wenig schmal: „Warum fragst du?“
„Ich wollte nur sicher gehen. Papiz und L'Homme haben nämlich keines.“
Gaucher entspannte sich und ließ resigniert seine Hände auf den Tresen sinken. „Papiz hat dich angeschnorrt.“
„Es ist egal. Wir machen das Fest und hoffen auf Erfolg.“
„Jërajëf. Trinkst du ein Bier.“
„Gerne.“
Gaucher sah mich ein Weilchen an. Er war Geschäftsmann, nicht sympathisch, nicht unsympathisch.
„Du bist sauer auf Papiz.“
„Nicht wirklich. Ich verstehe, dass er und L'Homme ordentlich in der Tinte sitzen. Man hat ihnen ihr Restaurant weggenommen. Ich wäre verdammt frustriert an ihrer Stelle.“
„Du hilfst ihnen. Sie sollten nicht mehr verlangen, als du geben willst.“
„Ich habe meinen Wagen und meine Zeit. Mehr geht nicht.“
„Das ist sehr freundlich von dir. Wenn sie schon zu blöd sind, sage ich es eben mal: Danke schön.“
„Komm schon, es ist kein Problem. Es ist auch ja auch sehr interessant für mich, hier überall dabei zu sein.“
„Siehst du, das ist es.“
„Was?“
„Der Grund, weshalb Papiz Geld von dir wollte.Du lebst hier so richtig mit Schwarzen, siehst unser Leben, lernst etwas und erlebst Dinge, die du in Europa niemals erleben würdest. Dafür bittet Papiz dich zur Kasse.“
„Dafür, dass ich ihm helfe?“
„Im Grunde ja. Weißt du, es gibt die Touristen, die Hotel Ville nicht verlassen. Die wollen Strand und Urlaub und Drinks und Fischen und in der Disco eine feine Nutte kennenlernen. Was eben so dazugehört. An die kommen wir nicht ran. Aber es gibt auch noch die anderen. Manche sind Sextouristen – Madame Mariani kennst du ja schon,“ Gaucher lachte, „aber du kannst dir vorstellen, dass keine weiße Frau nach Afrika fährt, um mit Papiz zu schlafen.“
„Kaum.“
„Eben. Darum hat er sich auf andere Leute spezialisiert. Auf die, die das echte Leben suchen. Die das Elend sehen wollen, betroffen sein und helfen möchten und das Gefühl brauchen, ganz persönlich etwas getan zu haben. An die kommt Papiz sehr wohl ran. Für die zieht er seine ganz individuelle Show ab.“
„Papiz denkt, dass ich es für unkorrekt halte, mit einem Quad durch ein Dritte-Welt-Land zu brausen und bietet mir deswegen eine Woche echt charmanter Armut direkt mit den Betroffenen?“
„Im Grunde ja.“
„Wow.“
„Sei nicht sauer. Für sie bist du ein sehr reicher Mann. Du lebst mit ihnen und gibst ihnen für eine Mahlzeit so viel Geld, wie sie in einer Woche durchbringen. Du fährst sie in deinem Wagen spazieren, als liefe der mit Sand. Du schenkst dem kleinen Mamebirane teure Gewürze und willst nicht mal was von ihm. Du zahlst eine Mitgift für eine Frau, die du nicht heiratest; woher sollen sie wissen, dass es auch für dich ein Limit gibt?“
Als Weißer wird man nur als Geldgeber gesehen, hatte die holländische Muttertomate gesagt. Sie hatte damit nicht unrecht. Nur lag das scheinbar auch daran, dass man sich als Weißer unentwegt benahm wie ein Bankomat.
Gaucher lächelte mich an. „Nimm das nicht persönlich. Papiz nimmt, was er bekommt. Ich glaube nicht, dass er zwischen Weiß und Weiß einen großen Unterschied macht.“
Mbour war zweifellos nicht gebaut worden, um irgendeiner Art von Weißem zu gefallen. Kolonnen riesiger Renault 18-Tonner mit verbeulten Lademulden rollten die löchrig asphaltierte Hauptstraße entlang, mannshoch mit geschlichteten Säcken überladen, manövrierfähig wie havarierte Öltanker. Omar, Gaucher und zwei junge Burschen, die wir als Träger mitgenommen hatten, saßen seit halb sieben Uhr morgens mit mir im Auto und wir ließen uns im dichter werdenden Verkehr nach Mbour treiben. Gaucher hatte mit einem beeindruckten Pfiff die Plastikfolie im Kofferraum betrachtet und gesagt: „Das war sehr clever.“ Seither schwiegen wir. Omar und die beiden Träger waren eingeschlafen, ich hielt möglichst viel Abstand zu allen Fahrzeugen, die größer waren als meines. Das Bankett der Straße ging fließend in die sandige Küstenebene über und man konnte sich entscheiden, ob es viele Kilometer breit war oder nicht existierte. Ich hielt meine Augen auf der Straße und hatte zunächst nicht einmal bemerkt, dass wir Mbour bereits erreicht hatten: Die Stadt hatte sich praktisch um uns zusammengebraut. Das erste Anzeichen dafür, dass hinter dem Schleier aus morgendlichem Dunst eine
Stadt lag, war, dass der Straßenrand mehr und mehr die Funktion eines Flussufers übernahm, an dem der zähe Verkehr vorüberrollte. Alle Augenblicke legte einer der riesigen Laster an diesem Binnenufer an, bis zum Kippen geneigt beim Ausrollen im tiefen Boden neben dem Asphalt. Busse oder Pkw gingen an unsichtbaren Haltestellen vor Anker und sofort drängten sich Trauben von Händlern, Fahrgästen, Dieben, Hehlern und Trägern um das neue Stück Treibgut, um das zu tun, wofür jedermann nach Mbour kam: ein Geschäft abzuwickeln.
Das war an sich noch nichts Ungewöhnliches – überall im Senegal schien es in erster Linie um Business zu gehen –, dennoch unterschied sich Mbour von allen anderen Orten, die ich hier bisher gesehen hatte. Dakar war im Vergleich eine durch und durch europäische Stadt und auch die kleinen Dörfer des Sine Saloum, das stille Somone und natürlich Saly hatten sich auf ihre Weise dem Vorhandensein von weißen Touristen angepasst. Selbst im Village Indigène versuchten die Schwarzen mit dem Wenigen, das ihnen blieb, dem Bild zu entsprechen, das die weißen Gäste von Afrika hatten.
Nur Mbour schien sich nicht um folkloristische Verrenkungen zu bemühen. Es gab keine hübschen Willkommensschilder, keine Strohdächlein, die dörflichen Charme verbreitet hätten, keine malerischen Hirten, die Bilder von malerischen Hirten verkauften. Es gab Dieselwolken, Lagerhallen aus Sichtbeton und keinerlei Versuche, das Treiben auf den Straßen nach westlichem Vorbild zu organisieren. Hier wurde Handel betrieben, Schwarze verkauften Schwarzen Dinge, die man später vielleicht Weißen verhökern konnte, aber im Moment zählte nur eins: aus Mbour mit gefüllten Taschen abzuziehen.
Ich steuerte den Wagen konzentriert möglichst genau in der Mitte der Straße, denn kaum geriet ich zu nahe an den Rand, drängten Leute zu unseren Wagentüren, umkreisten uns Mopeds wie Lotsenschiffe und fragten eilig neben uns herlaufende Männer in schmutzigen Boubous, wie sie uns zu Diensten sein konnten. An ein Weiterkommen war dann nicht mehr zu denken. Zwischen Wolken aus Sand und Abgasen erkannte ich in einiger Entfernung eine Kreuzung. Gaucher deutete mir abzubiegen und wir pflügten uns durch eine Menge bunt gekleideter Menschen, die mitten
auf der Kreuzung aus einem der klapprigen
Über- landbusse stiegen und augenblicklich begannen, die mitgebrachten Pakete zu verkaufen.
Die Straße, in die wir einbogen, war der Verbindungsweg zwischen Fischmarkt und Küstenstraße – der zentrale Nervenstrang von Mbour. Obwohl er neben der Autoroute in Dakar das vermutlich meistbefahrene Stück Straße war, das ich im Senegal gesehen hatte, war der Weg unasphaltiert. Gemeinsam mit Mopeds, Lastern, Pferdewägen, Lastenträgern, Schrottbussen und löchrigen Taxis grub sich mein Pajero durch einen zähen Morast aus Sand und Öl. Wir wühlten uns eine kleine Anhöhe hinauf und als vor uns der Fischmarkt in Sicht kam, brach der stockende Verkehr endgültig zusammen. Gaucher sprang aus dem Wagen, um uns in eine Seitengasse zu lotsen, und turnte im Stil eines Elefantenführers vor dem ungelenken Wagen her, bis wir in den Straßen abseits des Hafenzubringers wieder freie Fahrt hatten.
Während wir durch das morgendliche Mbour rumpelten, staunte ich über die vollkommen undurchschaubare Anlage der Stadt. Stadtplanerische Konzepte, wie man sie in Dakar fand – oder wie sie in Saly mittels Enteignungen durchgesetzt wurden – schien es hier nicht zu geben. Weite, sandige Plätze wechselten mit dicht bebautem Gebiet, dazwischen lagen riesige Felder mit Ruinen und es gab keine einzige befestigte Straße im Inneren von Mbour. Wir schlingerten durch tiefe Löcher voll weichem Sand oder abgestandenem Wasser und arbeiteten uns durch stille Wohnviertel hinunter zum Strand. Schwaden von Rauch und Fischgestank zogen über die dunstige Küste. Wir näherten uns dem Fischmarkt über dessen sumpfigstes Ende, wo Tonnen von Fisch geräuchert oder in der Sonne getrocknet wurden. Netze waren in etwa einem Meter Höhe waagrecht aufgespannt, auf denen bei steigender Sonne der Fang der Nacht ausgebreitet wurde. Bärte aus Tang hingen von den Netzen, unter denen die Leute schliefen, die hier arbeiteten. Das Räuchern und Trocknen war noch nicht in Fahrt gekommen, aber je weiter wir uns durch die Gassen zwischen Trockengestellen, ärmlichen Hütten und
hochgezogenen Pirogen arbeiteten, desto näher kam das Plärren und Wühlen des Fischmarktes von Mbour. Auf einer dünenartigen Anhöhe, die sich parallel zum Strand zog, thronte ein nüchterner Bau über dem Marktgelände, der mich an die überdachte Zuschauertribüne am Sportplatz eines Landesligaclubs erinnerte. Kahl, hoch und wegen des erst schwachen Morgenlichtes grell von Neonröhren erhellt, war dieser Bau das Erste, was ich vom Markt zu sehen bekam. Gaucher wies mich an, vorbei an den Ständen der Fischausnehmerinnen auf die merkwürdige Anlage zuzufahren, und ich hielt den Wagen in einem Abstand von wenigen Metern zu dem an vielen Stellen geborstenen Fundament der Markthalle an. Ich war erstaunt: Niemand benutzte sie. Das Leben, das Geschäft, die Arbeit spielte sich direkt am Strand ab.
Omar und die Träger kletterten schläfrig aus dem Wagen, Gaucher empfahl mir zu warten und ich war ganz zufrieden, das Tosen vor uns aus sicherer Entfernung betrachten zu können. Das Gewühl aus schwarzen Körpern, dreckigen T-Shirts und leuchtenden Boubous schluckte meine vier Begleiter, ich hatte sie aus den Augen verloren,
noch bevor sie zwanzig Meter weit von mir entfernt waren. Die ungenutzte Markthalle bot einen großartigen Überblick über den Strand und ich blickte an eine der Säulen gelehnt über das Getümmel. Ununterbrochen legten Pirogen an, andere stachen in See, stets begleitet von Knäueln von Menschen, die mit dem Be- und Entladen erst aufhörten, als sie Gefahr liefen, im aufgewühlten Meer den Boden unter den Füßen zu verlieren. Einige Männer fuhren sogar mit ihren einspännigen Pferdewägen zu den Booten und trieben ihre Gäule ins Wasser, bis die Gischt über den Ladeflächen zusammenschlug und die Tiere scheuten. In den winzigen Booten standen die Fischer aufrecht und lässig wie an einem Tresen, während sich um sie tückische Brecher mannshoch auftürmten. Assane hatte mir erzählt, dass viele von ihnen ertranken – nach meinem Ausrutscher in Somone war ich überrascht, dass überhaupt jemand zurückkam.
Am Ufer herrschte das lebhafteste African System und ich hatte keine Chance, im Getriebe des Fischmarktes geordnete Abläufe zu erkennen. Überall saßen Frauen mit winzigen Ständen und boten ein paar Stück der gleichen Fische an, die keine drei Meter von ihnen entfernt zu Tausenden
auf große Haufen geschüttet wurden; hier wurde en gros gehandelt, einen Schritt weiter en detail, dieser Haufen schien für den Export bestimmt, der daneben für den Eigenbedarf, hier war der Strand Marktplatz, dort Vertriebslager – einen westlichen Prozessmanager hätte vermutlich sofort der Schlag getroffen. Je länger ich allerdings dieses brummende Treiben beobachtete, umso klarer wurde mir, dass die Dinge zwar kreuz und quer liefen, aber dass sie vollkommen reibungslos liefen und vor allem in einem Tempo, mit dem ein weißer Besucher niemals hätte Schritt halten können. Der Markt funktionierte wie eine Industrieanlage ohne Maschinen und wer hier nicht sein Leben lang gearbeitet hatte, hatte keine Chance, die Regeln zu verstehen. Man konnte nicht sagen: „So, jetzt arbeite ich am Fischmarkt von Mbour.“ Vermutlich wäre man schon am ersten Tag totgetrampelt worden oder man ersoff. Und wer den ersten Tag überlebte, wurde am zweiten heillos ausgenommen. Wer hier arbeiten wollte, musste von Anfang an zur Maschine gehören; der Vater Fischer, die Mutter Händlerin, aufgewachsen im Getriebe des Marktes, dem man mit großer Wahrscheinlichkeit nie entkommen würde.
Die kräftigsten Jungen balancierten auf ihren Köpfen große Körbe zu den Booten, wo sie mit Fisch voll geschaufelt wurden. Wasser, Blut und Kot rann den Trägern über das Gesicht, aber sie hatten nur eine Sorge: Ihre Ladung möglichst rasch zu bestimmten Plätzen zu bringen und sie auf riesige Haufen von Fisch zu kippen, von denen aus die glitzernde Flut weiterverteilt wurde. Kleine Mädchen nahmen in Tüchern einige Stück Fisch an sich und brachten sie zu den umliegenden Ständen, Händler beurteilten die Fische nach ihrer Qualität und entschieden, ob sie den ganzen Haufen wollten oder nur die Hälfte; oder ob die Ladung einfach nichts wert war. Dazwischen eilten andere Männer von Haufen zu Haufen und sicherten sich die Edelfische, wieder andere huschten mit gezückten Macheten umher und hielten nach Haien Ausschau, denen sie die Flossen abhackten: Teurer Unfug für Toubabs und Japaner, der rasch zu den Kühllastern gebracht wurde. Neben jedem Haufen stand ein älterer Mann, der unablässig brüllend die Menge der gelieferten Fische inspizierte und deren Verteilung regelte; egal, ob ein Mädchen drei Stück wollte oder einer der Großhändler eine Tonne. Mir war nur nicht klar, wie man in diesem Chaos feststellen
wollte, wer wie viel wovon kaufte oder lieferte. Einziger Anhaltspunkt waren Markierungen auf den Körben der Jungen, die eventuell Aufschluss geben konnten, wem die Ladung gehörte, die sich gerade in der glitschigen Flut lebloser Fischkörper verlor. Das Unverständlichste aber war, dass niemand hier für irgendetwas Geld verlangte oder zahlen musste. Alle schienen zusammenzuarbeiten, jeder wusste, was wie viel wert war und abgerechnet wurde am Ende des Tages. Ich fragte mich nur wie. Allein meine „Tribüne“ war gute hundert Meter lang, zwischen Mbour und dem Strand zog sich ein Saum von vielen hundert winzigen Marktständen, auf einer Länge von gut einem Kilometer türmten sich alle paar Meter hüfthohe, ständig zerfließende Haufen von Fisch. An einem Morgen wurde hier wahrscheinlich mehr Fisch umgesetzt als in ganz Österreich in einer Woche. Wenn der Handel an diesem Strand tatsächlich auf gegenseitigem Vertrauen beruhte, war das mehr Vertrauen, als ich in meinem Leben gesehen hatte.
Gaucher, Omar und die beiden Jungs arbeiteten sich mit Körben voll Meeresfrüchten zu meinem Wagen zurück; wie sie aussahen, hatten sie weit mehr als nur Vertrauen in diesen Kauf investieren müssen. Ein dicker Mann stapfte hinter ihnen her und bestand lautstark auf die sofortige Rückgabe der Körbe, kaum dass Gaucher den Wagen erreicht hatte. Soviel zum Vertrauen.
Gaucher verhandelte mit dem Dicken und nachdem ich die Idee, die glitschigen Viecher einfach in meinen Kofferraum zu leeren, ausreichend energisch abgelehnt hatte, stieß der Händler einen der Körbe um und nahm ihn an sich, um zu demonstrieren, wie sehr ihn unser Transportproblem kümmerte. Es gab einiges Geschrei, aber letztlich lagen unsere Garnelen im Dreck und der Dicke trollte sich mit seinen Körben. Ich bestaunte unseren Kauf. Es war mir nicht möglich, die Anzahl der Krevetten zu schätzen, aber allein die Menge dieser kleinen Klassiker hätte nach meinem Verständnis für ein üppiges Buffet ausgereicht. Aber die Garnelen waren lediglich die Garnitur auf einem schimmernden Sumpf aus Panzern, die teils zu Langusten, teils zu riesigen Bärenkrebsen und – zu meiner Überraschung –
auch zu Seeigeln gehörten. Quer über die Masse von Gliederfüßen, Stielaugen, Scheren, Stacheln und Panzersegmenten lag ein mächtiger Seeteufel. Gaucher, Omar und ich standen um den gewaltigen Meeresfrüchte-Cocktail à la nature und Gaucher bat mich, mit ihm zum Markt zu fahren. Omar und die beiden Jungs wurden beauftragt, unsere Beute gegen Möwen und andere Interessenten zu verteidigen.
Ich lenkte den klobigen Wagen durch die sandigen Gassen des morgendlich ruhigen Stadtmarktes von Mbour und Gaucher dirigierte mich zu einem Laden, der bis oben hin mit Reissäcken aus Thailand vollgestapelt war. Der dürre Verkäufer ließ sich erklären, was wir brauchten und beäugte mich argwöhnisch. Die Idee, Reissäcke ohne Reis darin kaufen zu wollen, konnte eigentlich nur von einem Rotohr wie mir stammen. Die Verhandlung wogte hin und her, das Wolof des Reishändlers klang nach Keuchhusten oder Tuberkulose und er schien nicht besonders erfreut zu sein, dass ich den weiten Weg zu ihm gemacht hatte, um nichts als leere Reissäcke zu kaufen. Schließlich mischte sich ein Mann vom Stand gegenüber ein, der Seile und Taue, aber auch Fallschirmausrüstungen verkaufte. Mit seiner Teilnahme am Geschehen wurde das Gespräch endgültig laut und endete damit, dass er dem Reishändler zwanzig leere Säcke abkaufte und sie Gaucher für den doppelten Preis weiterverkaufte. So funktionierte das hier.
Weiter hinten, am Ende des Marktgebietes, deckten wir uns mit Alkohol ein. Obwohl das Trinken im islamischen Senegal wegen der Gewohnheiten der Franzosen und der meist tristen Lage der Schwarzen
mehr als üblich war, war der Handel mit Alkohol offenbar kein sehr ehrbares Gewerbe. Einige Flaschen Bier zu kaufen, war praktisch nirgends ein Problem, aber um Alkohol für vierzig Personen zu erwerben, musste man sich in recht hässliche Gesellschaft begeben. Die Luft zwischen den feuchten Markthütten roch nach den Blähungen alter Männer, die der Wind zur Sturmzeit beim Heurigen mit sich trägt, ein Gestank der seinen Ursprung zum einen in den zahllosen Kalebassen voll mit seifig schalem Palmwein und zum anderen in einer Vielzahl hohläugiger Säufer hatte, die apathisch und furzend zwischen den morschen Bretterhütten dieses letzten Marktausläufers herumlungerten. Ein feister Schwarzer mit Händen wie aufgeblasene Gummihandschuhe lud Gauchers Bestellung aus einem Verschlag und breitete damit die erste konkrete Vorstellung von L'Hommes Publikum vor mir aus: Neben wenigen Kästen Bier, drei oder vier Dutzend Wasserflaschen und knapp zwanzig Bouteillen Wein gab es für jeden der vierzig Gäste zumindest einen Liter Schnaps.
Die Heimfahrt im dichten, unberechenbaren Verkehr hatte mich angestrengt. Zu den üblichen Unwägbarkeiten des senegalesischen Straßenverkehrs kam heute noch eine beachtliche Menge betrunkener Franzosen, die grölend und rüpelnd mit ihren Quads die Küstenstraße zwischen Mbour und Saly auf und ab rasten. Beladen mit Kisten voll Fusel und einem halben Dutzend 100-Liter-Säcke voll triefender Schalentiere war mir noch mehr als sonst daran gelegen, eine carambolage sénégalaise zu vermeiden. Unterwegs hatten wir noch bei einem Freund von L'Homme gehalten, um löchrige Partyzelte, elektrische Lichterketten und einen trogartigen Riesengrill aufzunehmen; unsere beiden Träger mussten sehen, wie sie sich die Rückfahrt nach Saly organisierten. Der Wagen war in bester afrikanischer Spediteursmanier hoffnungslos überladen und ich war froh, dass wir Hotel Ville nicht queren mussten, um unsere Beute zu L'Homme zu transportieren. Ich hatte in der Nähe des A.S.A.-Quartiers eine Hertz- Zweigstelle ausgemacht – vermutlich hätte man mir das Auto einfach weggenommen, wenn ich mit dieser Fracht gesichtet worden wäre.
L'Homme hingegen schrie vor Glück, als er den Wagen sah. Er beschnüffelte jeden einzelnen Sack, den Omar vom Kofferraum aus auf den Boden wuchtete, und wirbelte fröhlich plappernd um den immensen Haufen, zu dem unsere Ladung vor seinem Haus anwuchs. Gaucher kommandierte alle verfügbaren Kräfte zum Wagen und verteilte Aufgaben. Mamebiranes Verwandtschaft hatte den Auftrag, die Partyzelte vor dem windschiefen Schilfdach des Chez L'Homme Tranquille aufzustellen – auch die zugedröhnten Superstars von Aerosmith hätten sich dabei nicht widerwilliger und ungeschickter anstellen können. Papiz schleppte unsere Verpflegung Sack um Sack in die Küche, wobei sich seine gelb unterlaufenen Augen auf alles hefteten, nur nicht auf mich. Omar stemmte die Grillwanne aus dem Wagen und L'Homme kappte die erste Flasche Pastis. Abgesehen davon verhielt er sich wenige Stunden vor der entscheidenden Spaßschlacht überraschend pragmatisch und zielstrebig. Er hatte ein Dieselaggregat aufgetrieben, das Strom für die Lichterketten liefern sollte, vor dem Haus türmten sich Tische und Bänke auf einem chaotischen Stapel, zwei dicke Frauen saßen in L'Hommes Behelfsküche und hantierten
mit Tischwäsche und Besteck. Ich war beeindruckt. Vorbereitung war in Saly scheinbar nicht gefragt, man erledigte die Dinge dann, wenn sie erledigt werden mussten.
Gaucher und Omar brachten den Grill in Gang und Papiz warf das Aggregat an. Es blies bullernd schwarze Wolken aus und Gaucher entschied fachmännisch, dass das rauchende und dröhnende Ungetüm hinter das Haus verbannt werden musste. Ein langes, vielfach geflicktes Kabel wurde durch die Büsche verlegt und ich versuchte, nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn einer der Gäste in der Dunkelheit darauf pinkelte. Atmosphärisch war die Entfernung des Motors aus dem lauschigen Strandrestaurant jedenfalls ein Gewinn und ich wusste ja, wo das Kabel lag.
Am Nachmittag verabschiedete sich Gaucher, da er in seinem eigenen Restaurant ebenfalls Gäste zu bewirten hatte, und der Rest des Tages verging unter gemächlicher, aber konstanter Arbeit. Omar übernahm den Dienst am Grill, die beiden dicken Frauen putzten den Fisch und die Meeresfrüchte, die Musiker hatten sich irgendwo schlafen gelegt und Moussa besorgte mit Papiz ausreichend Diesel für das Aggregat. Mamebirane hatte sein Kommen für den Abend zugesagt, um beim Servieren zu helfen und L'Homme beschäftigte sich hauptsächlich damit, mir auf die Nerven zu gehen, indem er mir alles und jedes aus der Hand nahm und mir – seinem liebsten Chinesen – befahl, sich hinzusetzen. Schließlich servierte er mir eine frühe Portion Brochette de Lotte – gegrillte Seeteufelfilets – am Spieß. Alle Leute des kleinen Teams wünschten mir herzlich guten Appetit und ich saß an einem Tischchen und speiste, während die anderen in der Nachmittags- sonne schleppten, schälten oder rührten. Das war peinlich, aber der Fisch war erstklassig. Weiches, weißes Fleisch, dessen aromatischer Saft sich an den Rändern der Filets knusprig angelegt hatte, zwischen den Filets hatte L'Homme Tomatenstückchen mitgegrillt. Meine Erwartungen in den Abend stiegen enorm.
Die ersten Gäste trafen gegen 19 Uhr ein. Es waren zwei befreundete Ehepaare jenseits der fünfzig. Die Frauen trugen biedere Brillen und geblümte Kleider, die um den Hintern spannten, mit ihren geschmacklosen Frisuren waren sie hässlich wie österreichische Frühpensionistinnen. Die Männer stellten ihre linkischen Tanzschulmanieren zur Schau und geleiteten ihre voluminösen Frauen von einem kleinen Parkplatz, den Omar hinter dem Haus ausgeschildert hatte, zu den Lichtern am Strand. Ihre Arme und Beine waren dünn und bloß, tonnenförmige Leiber steckten in ausgelassenen Strandhemden. Knielange Shorts komplettierten einen legeren Look, den sich keiner der beiden leisten konnte. Die ganze Truppe nahm unter dem feierlich beleuchteten Zelt an einem Plastiktisch Platz, die Dunkelheit war dem Erscheinungsbild der wackeligen Partyzone sehr zuträglich. Blaue afrikanische Tischtücher – Meterware aus dem Village Artisanal – ließen die Plastikgarnituren freundlich erscheinen, im Licht der Kerzen und Lichterketten schimmerte der Ozean als dunkle Tapete hinter den bunten Zelten, die Büsche wiegten sich in einer lauen Abendbrise – L'Homme hatte sein Restaurant gut hinbekommen.
Seine ersten Gäste hatten sich kaum niedergelassen, als er angestürmt kam, um seine „trés cher amis“ zu begrüßen. Seine Überschwänglichkeit wurde mit einer befremdeten Pastisbestellung erwidert, vermutlich waren die Vier auf Empfehlung irgendwelcher Freunde gekommen und kannten L'Homme nicht einmal. Für den Meister machte das keinen Unterschied. Er lachte, johlte und machte alberne Faxen, bis einer der beiden Männer auf seine Witze einstieg und das Eis gebrochen war. Eine der dicken Frauen aus der Küche brachte Pastis, Moussa tauchte unter L'Hommes Schwall des Frohsinns hindurch zu einem der beiden Männer und kassierte den All-inclusive-Abendtarif. Das drückte einigermaßen auf die Stimmung und L'Homme gab sofort noch mehr Gas, um seine Gäste wieder fröhlich zu stimmen. Er war ein folkloristischer Clown, der ohne Rücksicht auf Verluste um das Geld und die Sympathie seiner Gäste kämpfte.
Als Nächstes trat ein Hippiepärchen auf. Sie waren zu Fuß gekommen, er trug eine lächerliche Fransenjacke und lockiges Haar mit blonden Mèchen – bei einem Kerl von über vierzig Jahren konnte man nicht gut von Strähnchen sprechen. Sie war in ein afrikanisches Hüfttuch gehüllt und trug
ein enges Top mit einem gewaltigen Dekolleté. Wäre das nicht gewesen, hätten die Männer von Tisch 1 die beiden vermutlich aus alter 68er-Gewohnheit als studierte Steineschmeißer und Drogenhippies beschimpft. So stellten sie lediglich ihre Gläser ab und starrten der Frau grußlos auf den Busen. Der ondulierte Althippie umarmte L'Homme wie einen Bruder. Es war eine völkerverbindende Geste, die ein kritisches Bewusstsein gegenüber der gemeinsamen Geschichte mit einschloss und in ihrer Herzlichkeit alle Gräben zwischen Kolonie und Mutterland überbrückte. L'Homme hätte gerne auch die Botschafterin des Friedens, der Freude und der Eierkuchen umarmt, musste sich aber mit einem warmen, tief empfundenen Händedruck zufriedengeben. Getrunken wurde Pastis.
Kurz später schlingerte Madame Mariani an Ras´ Seite heran, ihr Sohn hatte zur Stillung seiner Bedürfnisse eine Flasche BEST dabei. Knapp dahinter wankte eine Frau, die vermutlich Madames Schwester war und sich ebenfalls einen schwarzen Macker gekrallt hatte. Ras ließ Madame in einen der Stühle plumpsen und machte sich auf den Weg in die Küche, um sich von Papiz ein Extra für die beiden zusätzlichen Gäste auszahlen zu
lassen. Niemand verschwendete Zeit, Papiz brachte persönlich vier Flaschen Pastis, L'Homme war kaum zu bremsen und nahm kreischend und gackernd am Schoß von Madames Schwester Platz. Die rülpste wollüstig und ihr Begleiter verzog sich in die Büsche, um Wasser abzuschlagen. Die ganze Wucht des Dieselaggregates konnte ihn kaum härter treffen, als der Dienst im Heiligsten seiner Begleiterin. Moussa huschte von Einem zum Anderen und nahm die Abendbeiträge entgegen. Damit begann eine heikle Phase: 12 zahlende Gäste waren bereits da, weitere 28 wurden noch erwartet. Jetzt galt es, die Pünktlichen solange hinzuhalten, bis die Truppe komplett war und mit dem Essen begonnen werden konnte. L'Homme hatte fünf Gänge angekündigt – Seeigel mit Zitrone, Garnelenspießchen, Brochette de Lotte, Langusten und Cigale de Mer gegrillt, zum Abschluss flambierte Bananen – und mit nur einem Grill und der Personalknappheit in der Küche von Chez L'Homme Tranquille war nicht daran zu denken, die Speisenfolge für jeden Tisch separat zuzubereiten. Leider war die Band nicht da, um den Gästen die unvermeidliche Wartezeit zu verkürzen. L'Homme kasperte possenreißend im Zelt umher und zeigte
sich wieder von seiner magersüchtigen Satchmo- Seite, während sich Moussa in aller Stille auf die Suche nach unseren Künstlern aus der Casamance machte.
Zwischenzeitlich sorgte das Eintreffen neuer Gäste, die das bisherige soziale Spektrum unserer kleinen Gemeinschaft beachtlich erweiterten, für ein wenig Abwechslung. Ein BMW X5 bügelte mit arrogantem Knurren die Sträucher neben Chez L'Homme Tranquille platt, ein gentilhomme reinsten Wassers entstieg in makellosem Smoking dem lederstrotzenden Innenleben seiner Offroad- Limousine, schritt um den Wagen und öffnete seiner Begleitung – cremefarbenes Abendkleid mit Rückendekolleté – die Beifahrertür. Auf ein lässiges „Allez“ hin öffneten sich die Türen des Volants und eine etwa fünfzehnjährige Tochter und ihr etwas älterer Bruder glitten in den gänzlich unklimatisierten Abend. Die beiden wären sogar als Debütanten beim Opernball overdressed gewesen, der schmutzige Sand knirschte unter ihren Lackschuhen. L'Homme eilte herbei – keine Faxen diesmal, trotz verkleckerter Schürze war er der untadelige diplomatische Repräsentant der unabhängigen Republik von Nord-Saly – und
begrüßte die Neuankömmlinge. Ich fragte mich, wie L'Homme Sorgen haben konnte, hatte er doch solche Freunde. Die Abendgesellschaft nahm am Tisch neben mir Platz, Madame schenkte mir ein knappes, unverbindliches Lächeln und Monsieur bat L'Homme, den mitgebrachten Champagner – immerhin sechs Flaschen – auf Eis zu legen. Leger entschied man sich für einen Aperitif und die nächste Flasche Pastis war unterwegs.
Als Österreicher war ich durchaus daran gewöhnt, dass Alkohol in ungesundem Ausmaß vernichtet wurde, und das nicht nur zu hohen Feiertagen, aber das rabiate Schnapssaufen, das rund um mich anhob, überraschte mich trotzdem. Die beiden alternden Mittelklasse-Paare waren bereits bei der zweiten Litereinheit, der Althippie und sein vollbusiger Tantra-Sonnenschein hatten auch schon eine halbe Flasche weitergebracht und um den Befüllungsgrad der Runde um Madame Mariani zu schätzen, musste man sich von menschlichen Maßstäben lösen. Ich nuckelte an meinem ersten Flag-Bier (0,6 Liter-Gebinde mit unmerklichen 6 Volumprozent) und fühlte mich wie ein Milchtrinker.
Am Tisch von Madame Mariani ätzte Ras mit
boshaften, glühenden Augen, was das für eine Party sein sollte, ganz ohne Musik, und obwohl er an der allgemeinen Stimmung ganz bestimmt kein Interesse hatte, brachte er sie damit vortrefflich auf den Punkt: Es wurde ein bisschen langweilig.
L'Homme meisterte die Situation, indem er eine launige Rede hielt und die Leute zum Lachen brachte. Auch meine rudimentären Französischkenntnisse reichten aus, um festzustellen, dass er zusammenhanglosen Unsinn erzählte, weshalb es nicht weiter störte, dass er seine Ansprache unvollendet ließ, um neue Gäste zu begrüßen. Es waren Schwarze. Auch sie waren mit dem Auto da, ebenfalls ein BMW, allerdings weniger geländegängig ausgelegt als der X5. Zwei dicke Männer im Anzug schwangen sich mit ihren kanarienvogelfarbig aufgeputzten Frauen aus dem Wagen und schritten gemessen am dienstfertigen L'Homme vorbei zum Großbürgertum an meinem Nebentisch. Man begrüßte einander mit der gebotenen Grandezza, wobei sich Madame in ihren Umgangsformen sichtlich aber nicht gänzlich unverkrampft um ein gleichberechtigtes gesellschaftliches Auskommen bemühte, während Monsieur sich mit dem Elan seines ersten Dreifachen seiner Gäste annahm, als wären sie Affen im Frack. Wenige Minuten nach der lokalen Prominenz trafen zwei sportive weiße Männer ein – Fitnesstrainer, Werbeleiter, Hedge-Fond-Manager, was auch immer – jedenfalls aber für Mutter und
Tochter gleichermaßen gute Gründe, ihre Brüste zurechtzurücken, und nahmen ebenfalls an der Tafel neben mir Platz. Die beiden schwarzen Männer machten ganz businessmäßig Konversation, aber die Stimmung war zu leger, zu privat und entspannt, um sie mit geschäftlichen Tönen zu belasten. Also trank Monsieur in weltmännischer Manier Pastis mit seinen feschen Partnern, die Gläser wurden mit elegantem Schwung gehoben, man lachte laut und besitzergreifend. Die schwarzen Männer wurden stiller, sie tranken nicht. Ich hatte einmal gelesen, dass Männer, die überdurchschnittlich viel Alkohol tranken, auch überdurchschnittlich erfolgreich im Beruf waren, ihr Networking überdurchschnittlich gut organisierten und überdurchschnittlich viele Sexualkontakte hatten. Quantifizierbare Erfolge in der Alkoholkultur.
Allerdings gab es auch Beispiele für trinkende Versager. Der räudige Sohn von Madame Mariani etwa schielte mit seiner Gin-Brille eifersüchtig zum Tisch neben mir und sagte irgendetwas über verdammte, schwule Geldscheißer. Ras lachte und brüllte nach Musik. Sein pöbelhaftes Aufbegehren wurde nicht zuletzt von der Upperclass fröhlich aufgenommen und bald schrie das ganze Partyzelt
rhythmisch: „Musik, Musik, Musik, ...!“
Vielleicht hatten sie auf diese stürmische Akklamation gewartet, vielleicht hatten sie den wichtigsten Auftritt ihrer Karriere einfach verpennt, jedenfalls war das in etwa der Augenblick, in dem Mamebirane, schwitzend und gekrümmt von der Last der Blamage, seine Verwandtschaft vom Strand her auf das Partyzelt zutrieb. Moussa ging kopfschüttelnd hinterher und verschwand sofort in der Küche. Die Jungs nahmen sich aus wie die senegalesische Abteilung eines multi-ethnischen Musikantenstadels, ihre Augen waren von Kater und Pot verklebt und sie hantierten mit ihren Djemben, Sabars und Talking Drums, als hätten sie diese klobigen Geräte zum ersten Mal in der Hand. Der Tumult schlug in herzlichen Applaus um, nur Ras steuerte einige gellende Pfiffe bei und die musikalische Delegation aus der Casamance begann ratternd und böllernd ihr Geschäft. Einer der Musiker sang und tanzte, die beiden Pärchen, die als Erste gekommen waren, waren naturgemäß am weitesten mit ihrem Silvesterrausch und ließen sich leicht dazu animieren, in ihre Hände zu poschen, dass die schlaffe Armhaut nur so wackelte. Allen anderen
war bald klar, dass unsere Künstler absolute Reservisten waren und einer der schwarzen Geschäftsmänner versuchte, mit einer feurigen Rede zumindest an seinem Tisch die Ehre der afrikanischen Musik zu retten. Mehr als einen neunmalklugen Sager eines der Hedge-Fund- Manager erntete er allerdings nicht damit.
Obwohl die Musiker schlecht waren, brachten sie endlich Bewegung in den Abend. Es war völlig egal, dass sie vor sich hintrommelten wie eine Bande anästhesierter Holzfäller, sie waren unterhaltsamer als das ferne Grollen des Dieselaggregates und der Dank ihrer Darbietung angeschwollene Lärmpegel ließ die Leute ausgelassener lachen, lauter reden und überschwänglicher gestikulieren. Ihr spaßgieriges, selbstherrliches Französisch toste um meinen Kopf und ich begann, mich ein wenig einsam zu fühlen. Gleichzeitig hielt sich mein Bedürfnis, mit einer der Gruppen Bekanntschaft zu machen, in eng gesteckten Grenzen. Doch auch ohne mein Zutun geriet ich in den Kreis der Wahrnehmung meiner Sitznachbarn, als Moussa mit einem weiteren Bier für mich aus der Küche kam und fragte, ob alles ok war bei mir. Ein aufmerksamer Blick von Monsieur schnitt sich
durch den Lärm zu uns herüber, glitt über die Konturen von Moussas muskulösem Rücken und heftete sich in mein Gesicht. Ich bejahte und Moussa zog zu den anderen Tischen weiter, um den Leuten mit seinen athletischen Bewegungen und einem Aufschlag seiner gebogenen Wimpern ein wenig einzuheizen.
Nach einer Weile drang vom Strand her ein schwer identifizierbares Geräusch durch den wachsenden Tumult unserer Party und in einem anderen Jahrtausend hätte ich auf einen verirrten Angriff von Hannibals Elefanten getippt. Ich kniff die Augen zusammen und erkannte in einiger Entfernung einen Mann in der Dunkelheit, der in Kniehosen und hellem Hemd an der Spitze einer gut 15-köpfigen Gruppe den Strand entlang hüpfte, wobei er einem Akkordeon zusammenhangloses Georgel entlockte. Die Leute waren, so weit ich sehen konnte, alle zwischen vierzig und sechzig, alle waren barfuß und in Strandkleidung und folgten johlend und lachend ihrer Ein-Mann-Marching-Band. L'Homme flitzte aus der Küche kommend auf die Meute zu wie ein verrückter kleiner Terrier und als der Akkordeonspieler und er einander in die Arme fielen, hatte ich den erstaunlichen Eindruck, die
beiden wären Brüder in unterschiedlichen Farben. Der Neuankömmling schien ebenso wie L'Homme trotz seines fortgeschrittenen Alters von seinen nackten Zehen bis zum zitternden, weißen Haarschopf unter Strom zu stehen. Eine unkontrollierbare, närrische Energie ließ ihn spastische Hopser vollführen und seinen Freunden in sich überschlagender Stimme das Wunder des Abends anpreisen: den Meister der gegrillten Meerestiere, den Spaßmacher und Zauberkünstler, Entertainer und Helden, seinen Bruder in rasender Lebensgier – L'Homme Tranquille! Eng umschlungen wankten die beiden alten Verrückten durch den tiefen Sand auf das Restaurant zu, wobei die Ziehharmonika stöhnend und schnaufend an der Seite des weißen Mannes baumelte.
Die Gruppe räumte mit der bisherigen Tischordnung gründlich auf und bald waren wir alle nur noch Satelliten am Rande eines Universums, das sich um das akkordeonspielende Zentralgestirn drehte. Für meine Tischnachbarn bedeutete das nicht mehr, als dass sie etwas elitärere Mienen aufsetzten und ihrer Umgebung routiniert
signalisierten, keinerlei Bedürfnis zu haben, einer Gemeinschaft anzugehören, in der sie nicht den
Mittelpunkt bildeten. Madame Mariani ließ sich von Ras den Busen massieren und ihr hässlicher Sohn kämpfte offenbar mit einem halb garen Ständer in seiner Hose. Für ihn hatte der Abend keinerlei sexuelle Zielsetzungen zu bieten. Genauso wenig wie für mich.
Immerhin hatte die Ankunft dieser letzten Gruppe den kulinarischen Teil des Abends in Gang gebracht, was mir meinen Erstkontakt mit rohem Seeigel bescherte. Eine Erfahrung, die sich nur mit dem Versuch vergleichen lässt, das Ejakulat eines namenlosen maritimen Ungetüms vom Strand lecken zu müssen. Den anderen schien das genau in den Kram zu passen und ein andächtig schlürfendes Schweigen senkte sich über unsere kleine, ansehnlich betrunkene Gemeinschaft. L'Homme, die beiden dicken Frauen, Moussa und Mamebirane rasten mit den Tellern zwischen den Tischen hin und her und versuchten, dieses erlesen ekelige Geschenk der Natur möglichst gerecht auf alle Gäste zu verteilen. Mamebirane war vom Stress des Tages deutlich gezeichnet, L'Homme torkelte zwischen den Tischgruppen hindurch wie eine Flipperkugel und selbst der coole Moussa hatte einen leicht irren Blick aufgezogen. Nur die beiden Frauen schienen einen
hohen Leidensdruck gewohnt zu sein und brachten einfach Teller zu verschiedenen Tischen, ohne daran zu denken, dass sich diese Tätigkeit, nur unterbrochen von endlosem Grillen, Abwaschen, Getränke-bringen und In-den-Arsch-gekniffen- Werden bis tief ins nächste Jahr ziehen würde.
Ich verwüstete meine Seeigel, um höflich den Eindruck zu erwecken, ich hätte den zitternden Schleim im Inneren dieser stacheligen Halbkugeln tatsächlich gegessen. Dabei tropfte ein Spritzer Zitronensaft ins Innere eines der aufgeschlagenen Tiere und die Stacheln begannen, sich unter dem Einfluss der Säure zu bewegen, ihre Spitzen schabten am kahlen Porzellan meines Tellers. Glücklicherweise machte der nächste Gang diese Splatterminiatur wieder vergessen, Moussa brachte mir einen üppigen Teller voll gegrillter Garnelen- spießchen mit Sauce Njama Njama und Brot. Moussa behandelte mich offensichtlich bevorzugt, da ich nicht nur den ersten Teller bekommen hatte, sondern kaum, dass ich den ersten Spieß abgeerntet hatte, auch schon die nächste Ladung vorgesetzt bekam, obwohl zweifellos noch nicht alle Gäste ihre erste Portion erhalten hatten.
Das brachte mir sowohl von Madame Marianis
Schwester als auch vom kolossal besoffenen Sohn des weißen Wirtschaftsmagnaten einige missgünstige Blicke ein und ich war sehr zufrieden, dass wenigstens der Futterneid alle gesellschaftlichen Barrieren zu überwinden imstande war.
Nach den Garnelenspießchen ergab sich eine unangenehme Verzögerung in der Speisenfolge und Ras begann einmal mehr als Erster zu protestieren. Für einen Augenblick erschien Mamebirane im Partyzelt und feuerte seine Verwandtschaft mit einer kleinen, sehr aparten Tanzeinlage zu mehr Esprit an, aber das allgemeine Verlangen war nur auf den nächsten Gang konzentriert. Und der kam nicht. Ich huschte hinter Mamebirane in die Küche, um zu sehen, was schief gegangen war, und bekam von einer der dicken Frauen prompt ein Geschirrtuch in die Hand gedrückt. Die Teller waren alle und wenn wir die wenigen, die wir hatten, nicht zügig sauber bekamen, würden Langusten im Wert von rund 100.000 CFA am Grill verbrennen; man konnte sie nicht gut vor dem Servieren auf den sandigen Boden legen. Also half ich Teller schrubben. Ich war zufällig hinter die Kulissen gestolpert, mitten in das echte, öde Leben voll Schinderei und Dreck. Niemand hatte den Nerv, meine Hilfe abzulehnen, niemand versuchte, die Fassade zu waren, und Omar, der schweißtriefend am Grill schuftete, zeigte sein breitestes Grinsen für mich. Vielleicht war ich in diesem Moment tatsächlich ein Verbündeter der
Gemeinschaft in Saly. Ich wurde nicht mehr bedient, man sah mich nicht mehr als Betroffenheitstouristen und erwartete nichts von mir, als das, was ich im Augenblick tat: Anpacken, weil sonst alles den Bach hinunter ging.
Zwei angespannte, wortlose und heiße Stunden verbrachte ich in L'Hommes Küche. Ich wühlte in Säcken voll Garnelen, wusch und wischte ein Dutzend Mal dieselben Teller, die jedes Mal wieder voll Gedärm und Schleim und Speichel zu uns hereingebracht wurden, ich schwitzte, schnaufte und stank in derselben Hitze wie Omar und Papiz und L'Homme und Moussa. Und irgendwann war es dann vorbei. L'Homme packte mich an beiden Schultern, drückte mich an sich und ließ mir eine Platte mit Langusten, Bärenkrebsen und Brochette de Lotte bringen, die ich stöhnend vor Glück und ohne Pause leer aß.
Das waren meine zwei Stunden als Afrikaner gewesen. Näher war ich den Leuten hier nie gekommen. Jetzt, da diese beiden Stunden vorbei waren, freute ich mich über das Privileg, als Einziger in der Küche die köstlichen Speisen für die Gäste essen zu dürfen. Ich freute mich über die stille Dankbarkeit, die L'Hommes Belegschaft mir entgegenbrachte, obwohl ich nichts anderes getan hatte, als jeder von ihnen; nur um ein halbes Leben kürzer und um ein Vielfaches ungeschickter. Ich war gerne und bereitwillig der weiße Mann, von dem man im Grunde nichts erwartete, als dass er seinen All-inclusive-Preis bezahlte. Und das hatte ich schließlich getan.
Draußen hatte sich im orgelnden Klang des Akkordeons alle Ordnung aufgelöst. L'Hommes weißer Blutsbruder hatte sich seines Hemdes entledigt und war redlich bemüht, der Percussiongruppe französische Weihnachtslieder beizubringen, während einige seiner Freunde sich bereits eng umschlungen zu den kakophonischen Fehlversuchen dieses Cross-over-Projekts wiegten und halb singend, halb tanzend über den nächtlichen Strand stolperten. Die schwarzen Geschäftsfreunde der BMW-Fraktion hatten das Feld geräumt, rund um den Tisch der verbliebenen Upperclass-Runde lagen fünf Champagner-Flaschen verstreut. Der Sohn des Hauses hing grünlich verfärbt und mit schweißnasser Stirn in seinem Sessel. Sein Eintritt in die Welt des geschäftlichen Trinkens schien kein großer Erfolg gewesen zu sein. Madame hatte die soziale Kluft zwischen sich und dem Rest der Welt überwunden und schunkelte bloßfüßig mit ihren singenden Landsleuten vor dem Zelt. Madame Mariani und ihre Schwester saßen eisern saufend an ihrem Tisch, Ras und sein Stecherkollege hatten einen zwei Finger dicken Joint in Arbeit. Monsieur Mariani Junior glotzte auf die tanzende Horde, einer vielleicht 45-jährigen,
stämmigen Frau war die Bluse verrutscht, man konnte eine ihrer Brüste sehen. Es war gerade halb zwölf.
„Entschuldigen Sie, junger Freund“, sagte der BMW-Vater mit schwerer Zunge und legte mir vertraulich den Arm um die Schulter. Ich kann es nicht leiden, wenn Fremde mich vertraulich umarmen, und war froh über die zahlreichen Schuppen, Schleimpatzen und Speisereste, die auf meinem T-Shirt klebten und nun auch Teil des Anzugdesigns meines neuen Freundes geworden waren. „Wissen Sie zufällig, wo Moussa geblieben ist?“
„Keine Ahnung“, erwiderte ich wahrheitsgemäß. Moussa war irgendwann aus der Küche verschwunden, als die ersten Dessertteller zurückgekommen waren und wir anstelle von Langusteninnereien Bananenkleister in die Abwaschkübel gepatzt hatten.
„Ach so, entschuldigen Sie. Ich dachte, Sie wären ein Freund von ihm.“
„Bin ich. So weit. Kann ich ihm etwas von Sie sagen?“
„Hehe, also das wäre doch sehr pikant ...“, sagte der Mann und wankte an meiner Seite hin und her. Der
Arm um meine Schulter stabilisierte ihn nur unzureichend. Dann sah er mich ein Weilchen an – Suff und Lust hatten ein aufreizend debiles Grinsen in sein distinguiertes Gesicht gezaubert – und meinte schließlich: „Jetzt mal im Ernst, verdammt, Sie wissen schon. Ich bin noch nie so gefickt worden wie von Ihrem Moussa. Und wenn Sie das wieder arrangieren könnten, würde ich mich durchaus erkenntlich zeigen ...“
Ich gab ihm seinen Arm mit immerhin soviel Elan zurück, dass er erst einige unbeholfene Schritte von mir entfernt wieder zum Stehen kam. Für einen Moment glotzte er mich verständnislos an und suchte in seinem benebelten Kopf nach einer adäquaten Reaktion, bis sich sein Sohn als brauchbarer Jungdiplomat erwies und seinem Vater einen geeigneten Anlass bot, sich ohne lange Erklärungen zurückzuziehen: Er kotzte auf den Tisch. Eine der beiden dicken Frauen kam dem unbeholfen herbeieilenden Monsieur mit einem Lappen zu Hilfe und wischte die unverdauten Meeresfrüchte weg, die in einer galligen, alkoholdunstenden Lorke aus dem jungen Mann geschwappt waren. Die beiden Hedge-Fund-Manager lachten und trugen den Juniorchef zum Auto, wo er
in eine Decke gewickelt und auf die Rückbank gelegt wurde. Die Türe ließ man offen, damit der Junge seinen nächsten Schwall nicht ins Wageninnere entlassen musste. Die beiden behandelten das Problem sehr routiniert, fast als hätte der junge Mann einen konjunkturbedingten Kurseinbruch erlitten.
Ich war in die Küche zurückgekehrt. Dort saß Omar neben dem Grill und zwinkerte mir zu. Für ihn war die Show gelaufen. Die zweite dicke Frau wusch die letzten Teller ab und Papiz brachte einen Armvoll Pastisflaschen hinaus. Mamebirane saß bedrückt auf einem der rostigen Sessel, von Moussa keine Spur. Wahrscheinlich war er in Hotel Ville unterwegs, wo es mehr Leute mit Monsieurs Interessenlage gab und er sich den Lebensunterhalt für die nächsten Monate verdienen konnte. Armer Mamebirane; verliebt in einen Stricher, das war schlimm: Er mühte sich um ein häusliches Leben, himmelte Moussa an und versuchte vermutlich, ihn mit den Profiten der Gärtnerei vom Strich wegzubringen. Aber Monsieur – oder sonst wer in den Hotels – konnte vermutlich etwas mehr für eine Nummer bezahlen, als Mamebirane mit all seinen Bonsais je erwirtschaften würde.
Knapp vor Mitternacht ging ich wieder hinaus. L'Homme tobte zwischen den Tanzenden, die sich schwankend aneinander klammerten, auf die Jahreswende zu, einer der beiden älteren Ehemänner stand voll konzentriert und weit vorgebeugt neben einem Tisch und fixierte seine Armbanduhr, die er vor sich hingelegt hatte. Offenbar hielt er einen Zehn-Minuten-Countdown für angemessen, um das erste Jahr des neuen Jahrtausends zu verabschieden, und löste damit immerhin jene angespannte, vorfreudige Stimmung aus, die den Jahreswechsel dann doch immer als etwas Besonderes erscheinen lässt. Der Akkordeonderwisch hatte zwischenzeitlich von seinem Instrument abgelassen und intonierte in gellendem Sprechgesang gereimte französische Zoten, die vor allem seine Begleiterinnen in wieherndes Gelächter ausbrechen ließen. Madame Marianis Sohn schlich wie der schlechte Atem durch die Reihen der vorfreudigen Silvestergesellschaft, Madame selbst war eingeschlafen. Ras, sein Kollege und die andere Frau waren verschwunden. Der BMW-Mann hielt den Hals seiner letzten Flasche Champagner in der Hand wie einen Pimmel, einer seiner Geschäftsfreunde betatschte einstweilen seine
Tochter, die mit apathischem Blick aufs Meer hinaus glotzte. Vielleicht war sie zu besoffen, um die Hand zwischen ihren Schenkeln zu spüren, vielleicht war sie es einfach gewöhnt. Ihre Mutter johlte am Strand mit besoffenen Fremden über schlüpfrige G‘stanzln und ihr Vater träumte von Moussas hartem Schwanz. Möge ihr nächstes Jahr besser werden.
Ich lehnte an einer der Säulen, die das Dach unseres Quartiers trugen, und sah mir L'Hommes Völkchen an. Sie alle waren Abschaum. Säufer, Pädophile, Sextouristen, heillos verstrickt in die Schwierigkeiten, all das zu konsumieren, was sie hier für ein Spottgeld geboten bekamen. Der Schnaps kostete nichts im Vergleich zu daheim, worauf man seine Hand auch legte, es gehörte einem für nichts als ein paar Zerquetschte.
Und dann war es zwölf. Alles fiel einander in die Arme, man stürzte über Stühle, blieb am Boden liegen, die gierigen Hände an den Brüsten fremder Frauen und der weiße Derwisch spielte eine Polonaise dazu. Aber das Stück entgleiste ihm in ein infernalisches Tröten, er sang und lachte gleichzeitig, während die Percussionisten irgendein Humptata trommelten, das er ihnen zu spielen
aufgetragen hatte. Schließlich begann er, seine Ziehharmonika hoch über seinem Kopf zu schwingen, er ließ sie kreisen, ein tief und bedrohlich brummendes Rotorblatt, bereit, jeden Schädel zu zertrümmern, der in seine Flugbahn geriet. Der Alte torkelte halb nackt durch das Zelt, kreischend und lachend taumelte er unter der Wucht seines wirbelnden Instruments, bis er stürzte, in einem hässlichen Aufschrei des Luftsackes niederkrachte und das Akkordeon unter sich begrub. Für einen Augenblick war es still. Omar war neben mich getreten, eine Zigarette zwischen den öligen, verrußten Fingern und sagte: „The white man is crazy.“
Als der erste Schein der Dämmerung den Himmel über dem Chez L'Homme Tranquille grau gefärbt hatte, war Omar mit einem dicken Bündel Geldscheine zu mir gekommen und hatte mich gebeten, die Ernte dieser Nacht an mich zu nehmen. Ich sollte sie Assane geben, sobald ich nach Dakar kam. Abzüglich aller Spesen würde es für einen Anwalt reichen, allerdings nur, wenn L'Homme keine Möglichkeit bekam, das Geld vorher zu versaufen. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war der Spaßmacher und Zauberkünstler, der Entertainer und Held halb nackt am Tisch von Madame Mariani gelegen und Madames Schwester hatte lachend in seiner Hose gewühlt. Vielleicht gelang es dem Anwalt, eine Parzelle an der Hauptstraße für L'Homme zu erkämpfen, wo er eine kleine Imbissbude betreiben und Kindern Eis verkaufen konnte.
Saly war still, als ich mich auf den Weg machte. Mein Pajero rumpelte über verlassene Straßen nach Norden, die Sonne brannte auf die petite côte, die leeren Strände, die weggeworfenen Flaschen und die wenigen Ziegen, die im Müll der gestrigen Nacht nach Essbarem stöberten. Die achtzig Kilometer bis Dakar zerrannen unter den Rädern, vor den Fenstern wurden die Sträucher flacher, die Palmen seltener und der Boden schmutziger. Während draußen die subtropische Freundlichkeit dem borstigen, spröden Look des Sahel wich, schnurrte meine Klimaanlage kühle, trockene Luft in mein Gesicht. Knapp vor Dakar näherte sich die Straße der Küste und ich rauschte durch die Geisterstadt Rufisque auf die Industriegebiete vor dem Cap Vert zu. Das Meer war dreckig und grau, dichte Staubwolken hingen bewegungslos über den Zementwerken in der heißen Luft des Vormittags. Die Zeit war noch nicht wieder in Schwung gekommen in diesem neuen Jahr. Selbst die Autoroute bot nur eine Zeitlupenversion des hektischen Irrsinns, der an jedem anderen Tag hier stattfand.
Ich hatte keine genaue Vorstellung davon, wie ich meine Mission angehen sollte. Mit dem nächsten Bündel Geld bei Yadikon einmarschieren und so tun, als ob nichts gewesen wäre? Ich fuhr unschlüssig die Corniche entlang und entdeckte schließlich einen Supermarkt, wo ich anhielt, um ein Geschenk für Yadikon zu besorgen. Von allen Möglichkeiten, dumm dazustehen, hielt ich die, mit einem Geschenk in der Hand dumm dazustehen, für die erträglichste. In der Abverkaufsabteilung entdeckte ich eine Weihnachtskerze mit dem Konterfei der glücklich niedergekommenen Gottesmutter und obwohl es nicht meinen Überzeugungen entspricht, weihnachtlich kitschige Devotionalien zu verschenken, fand ich, dass die Kerze gut unter Yadikons Papstportrait passen würde.
Im Auto legte ich die Kerze neben mich auf den Beifahrersitz und sah sie einen Augenblick lang an. Sie würde mein Problem nicht lösen. Ich wollte Yadikon nicht in Verlegenheit bringen – vermutlich hätte sie mir trotz allem wieder ihre Gastfreundschaft angeboten, sobald ich bei ihr aufkreuzte – also musste ich mir selbst ein Quartier suchen. Wenn ich Yadikon, vielleicht sogar Maymouna wiedersehen sollte, wollte ich wenigstens unabhängig sein.
Ich hatte noch Mamadous Karte in meiner Tasche und machte mich auf den Weg zu seinem Haus in der Medina. Ich war zufrieden mit meiner Entscheidung und fühlte mich recht autonom. Leider war Mamadou nicht zu Hause und mein selbstbestimmter Plan löste sich augenblicklich in das übliche Gefühl der Ziellosigkeit auf. Einer seiner Brüder hatte mit kleinen Augen die Türe geöffnet und mich schlaftrunken, aber freundlich begrüßt. Ich hatte ihn noch nie gesehen, aber er bat mich unverzüglich, im schattigen Innenhof des Hauses Platz zu nehmen, bis der Ataya fertig war. Cheikh, so hieß Mamadous Bruder, saß in einer Jogginghose und einem Basketballshirt – beides Nike – auf einem Schemel und hantierte mit spitzen Fingern an der Atayakanne herum. Verkatert und müde spürten scheinbar auch Senegalesen die Hitze. Ich versuchte, Cheikh in radebrechendem Französisch meine Wünsche auseinanderzusetzen, und brachte damit etwas Leben in seine lange Gestalt. Er bot mir an, für einige 1000 CFA Gast in seinem Haus zu sein und ich willigte gerne ein. Da ich mir die Hotels in Centre Ville vermutlich nicht mehr leisten konnte, hatte ich ohnehin kaum Alternativen.
Ich saß eine Weile mit Cheikh im Hof und wann
immer jemand vorbeikam, blaffte er unfreundlich oder lachte oder beides. Mich jedenfalls nahm Cheikh exklusiv in Beschlag, indem er mir ausführlich seine Lebensgeschichte erzählte. Ich konnte nicht viel von seinen Ausführungen verstehen, er sprach wie selbstverständlich ein kreatives Gemisch aus Wolof, Französisch und Englisch, vereinzelt glaubte ich sogar, einige italienische Worte herauszuhören. Eine seiner hübschesten Verballhornungen war die anglo- senegalesische Wendung „Nice na“ – „Das ist nett“. Abgesehen von seiner Sprachakrobatik war Cheikh seiner Ansicht nach einer der besten Trommler im Land und es konnte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis er nach Europa engagiert wurde, um Karriere zu machen. Ein Freund hatte bereits seine Papiere fertiggemacht, alles, was ihm fehlte, war eine Einladung. Denn – anders als ich – konnte er selbst mit Geld nicht ohne Einladung in mein Heimatland einreisen, wann immer es ihm passte. Er brauchte also eine gute „connection“ nach Europa, sonst lief nichts. Offenbar hielt er unsere Freundschaft nach der ersten halben Stunde für hinreichend gefestigt und unterbreitete mir die Idee, dass ich ihn nach Europa einladen könnte.
„You nice na, ey. Komm, schreib an invitation für mich, wir machen super business. Ich bin ein Trommler bu baax lool. D´accord?“
Der Haken war, dass der Inhaber eines Besucher- visums im Gastland keinen Versicherungsschutz genoss, weshalb der Gastgeber für alle Kosten aufzukommen hatte, die sich aus Krankheiten, Unfällen oder anderen Schwierigkeiten ergaben. Dafür war ich der falsche Mann.
„Nein, nicht d´accord. Ich war im Gefängnis. Ich kann kein invitation machen.“
„Uh“, sagte Cheikh. „Gefängnis? Was hast du gemacht?“
„Ich habe einen Mann k.o. geschlagen.“
„Def si!“, brüllte Cheikh lachend und boxte sich mit der Rechten krachend in die linke Handfläche. „Dafür kommt ihr ins Gefängnis? Bei uns this is every day.“
„Def si? Was ist das?“, fragte ich.
„Def si heißt ‚schlag ihn’. Wenn du das in Medina hörst, musst du laufen, Baguette.“
Offenbar war ich als „connection nice na“ aus dem Rennen und Cheikh hatte seinen Spaß dabei, mich altes Rotohr runterzubuttern.
„Bei uns heißt das ‚Gib ihm!’ und wenn du das in
Hütteldorf hörst, kannst du nicht mehr laufen.“
Cheikh grinste und gab mir Fünf. „Wie heißt du in Afrika?“
„Der Chinese.“
„Ça va, Chinese.“
„Ça va bien.“
Für den Abend hatte ich mich mit Assane in einem Lokal namens Kily verabredet, das praktisch direkt neben dem La Soumbe lag und auch an Tagen wie dem ersten Jänner offen hatte. Mamadou war den ganzen Tag nicht aufgetaucht, eine seiner Tanten hatte uns auf Cheikhs Geheiß für weitere 1000 CFA ein schleimiges Fischgericht gebracht und mir war klar geworden, dass Assane, Yadikon, die kleine Frau und Maymouna in sehr luxuriösen Verhältnissen lebten. Im Grunde glich Mamadous Haus dem der Senghor-Verwandtschaft, nur dass es von einer sehr unübersichtlichen Anzahl von Personen bewohnt wurde, von denen die meisten kein eigenes Zimmer hatten, sondern sich zu zweit oder zu dritt Räumlichkeiten teilten, die eher kleiner waren als die Ausnüchterungszelle, in der ich meine erste Nacht in Assanes Obhut verbracht hatte. Dabei galt auch Mamadous Familie in der Nachbarschaft als wohlhabend und angesehen. Mir war unbehaglich zumute und auch wenn Mamadous Familie mit meinem Kost-und-Logis-Arrangement bestimmt nicht das schlechteste Geschäft machte, fühlte ich mich uneingeladen und fremd. Außerdem machte ich mir heimlich Sorgen über meine Unterbringung. Es wäre mir nicht recht gewesen,
hätte man meinetwegen ein Zimmer räumen lassen, mit Cheikh oder einigen seiner Geschwister in einem Bett übernachten wollte ich aber auch nicht. Leider gab es keinen mehrsprachigen Rezeptionisten, mit dem ich diese kleine Ungewissheit sachlich und distanziert hätte ausräumen können, und trotz der frischen Eindrücke aus Saly konnte ich mich nicht restlos davon überzeugen, dass ein Hotel eine ganz und gar schlechte Einrichtung war. Schließlich war ich froh, als ich – wenn auch viel zu früh – zum Kily aufbrechen konnte. Cheikh, der offenbar nichts Besseres zu tun hatte, begleitete mich.
Im Kily war nichts los. Alle, die gestern hier gefeiert hatten, waren noch nicht wieder auf den Beinen und den überfüllten Mülltonnen in der Einfahrt nach zu schließen, waren das nicht wenige gewesen. Das ganze Lokal war gähnend leer, es gab keine Musik, die Tanzfläche lag in undurchdringlicher Dunkelheit. In den Ecken des Lokals standen Tische mit hochgestellten Stühlen – die Gerippe in der Wüste verödeter Gastronomie. Über all dem hing eine riesige Discokugel träge wie ein verspiegelter Mond. Nur an der Bar direkt neben dem Eingang saßen einige Unverbesserliche und soffen einen auf den Gestrigen drauf. Trotz der erlesenen Tristesse hatte ich den vollen Eintrittspreis bezahlen müssen – für mich und Cheikh versteht sich –, an der Bar wurden zwei Bier auf meine Rechnung fällig. Von Assane keine Spur. Ein Kühlschrank brummte, kaum jemand sprach und in der Ferne hörte man das Meer rauschen. Cheikh und ich waren in eine Konversationssackgasse geraten. Der Small Talk war erledigt, die nächste Getränkebestellung noch fern und allgemein klar geworden, dass ich nicht viel zu bieten hatten. Also horchte mein Begleiter interessiert auf, als draußen zwei Wagen hielten, Türen schlugen und eine Frau in etwas gereiztem
Ton sagte: „Also, ich glaub wirklich nicht, dass wir da jetzt reingehen müssen.“
Für Cheikh mochte das fremdländisch und verheißungsvoll geklungen haben, mir aber war klar, dass diese Stimme zu jemandem gehörte, der aus dem südlichen Niederösterreich kam. Neunkirchen vielleicht, möglicherweise sogar Gloggnitz. Das fand ich nicht besonders gut.
„Jetzt simma schon da, da kömma auch gleich ein Bier trinken.“
Ein Mann. Raum Wien. Auch eher südlich.
„We go tanzen! Spaß!! Come on!“
Wer auch immer das gesagt hatte, glänzende Laune und Kommandoton gingen in dieser tiefschwarzen Skilehrerstimme eine unwiderstehliche Symbiose ein. Die Sache war damit offenbar entschieden und eine Handvoll weißer Gäste schubsten einander zögerlich ins Innere des leeren Lokals vor, umspült von einer lachenden Schar bestgelaunter Schwarzer, die mich entfernt an L'Hommes Künstler aus der Casamance erinnerten. Ein eindrucksvoll kräftiger Rasta in einem ärmellosen Hemd sammelte Geld von seinen weißen Freunden ein und überzeugte den Lokalmanager, wenigstens die Stereoanlage in Betrieb zu nehmen. Um seinen Hals
und um seine muskulösen Arme trug er eine beachtliche Menge Gris Gris, abgesehen davon war eindeutig er der Skilehrer.
Die Weißen musterten mich kritisch und ich hielt die Klappe. Vielleicht hatten wir dieselbe Hautfarbe, sprachen dieselbe Sprache und waren die Einzigen hier, die wusste, dass es Gloggnitz gab, aber daraus ergab sich meiner Ansicht nach nicht zwangsläufig die Notwendigkeit einer Kontaktnahme. Cheikh hingegen beobachtete die Gruppe mit unverhohlenem geschäftlichem Interesse und lauerte auf seine Chance. Seine Zielgruppe bestand aus vier Frauen und zwei Männern – einem blassen, dicklichen Jungen von kaum 20 Jahren und einem bärtigen Mittdreißiger, der sich bunte Schnüre ins Haar hatte flechten lassen. Drei der Frauen mochten Mitte vierzig sein und wirkten einigermaßen hausbacken. Die vierte war aus einem anderen Holz geschnitzt. Sie war in meinem Alter, sah gut aus, trat selbstbewusst auf und man konnte ihr ansehen, dass sie recht hatte; prinzipiell. Was sie auch tat, es war pragmatisch, moralisch gefestigt, vorurteilsfrei und durchdacht. Es hätte Susanne sein können. Auch das fand ich nicht gut.
Die kleine Truppe war beständig in eine Wolke aus
herzlichem Gelächter, guter Laune und Ausgelassenheit gehüllt, ein richtiges Gespräch, das Aufschlüsse auf den Grund dieses Auftriebs hätte geben können, kam im allgemeinen Trubel nicht auf. Alles radebrechte in verschiedenen Sprachen, jedes Wort Wolof, das einer der Weißen sprach, wurde ausführlich belacht und beklatscht und in all den wirr durcheinandergehenden Reden verstand ich eigentlich nur ein Wort: Workshop. Von diesen Veranstaltungen hatte ich gehört: Musiker, die in Europa lebten, finanzierten sich ihren Heimaturlaub gerne, indem sie eine Handvoll weißer Selbstfinder mit nach Afrika nahmen und ihnen eingebettet in die unvergleichliche Kultur und die Rhythmen Afrikas Trommelkurse anboten. Das war nicht nur ein einträgliches Geschäft, man konnte auf diese Weise auch den ewig neidischen und nörgelnden Verwandten in der Heimat einen Job als Trommel- oder Tanzlehrer verschaffen.
Für Cheikh war „Workshop“ jedenfalls das Stichwort unsere junge Freundschaft Freundschaft sein zu lassen und sich zu der frohsinnigen Runde zu gesellen.
Ich blieb allein an der Bar zurück, manchmal streifte mich ein misstrauischer Blick, allen anderen Weißen im Kily war die Workshop-Susanne ein sicherer Halt. Wann immer einer der Trommelnovizen mitten in all der unbeschwerten Fröhlichkeit etwas verlässlich wissen musste – etwa wo das Klo war oder was wie viel kosten würde –, half Susanne mit einer diskreten aber verbindlichen Auskunft. Sie hätte die ganze Bande in den sicheren Tod führen können, ohne dass einer von ihnen es auch nur gemerkt hätte. Ich war froh, als ich Assanes leicht angeschlagenen Bass hörte:
„Ça va, Chi!“
Ich hatte das schon öfter erlebt: Wenn man jemandem in der Fremde ein zweites Mal begegnet, kommt es einem vor, als hätte man einen alten Freund vor sich. Assane schüttelte meine Hand, als wären wir tatsächlich alte Freunde und trotz der Tragödie, die ich in seinem Haus ausgelöst hatte, schien er sich wirklich zu freuen, mich zu sehen. „Yadikon lässt dich grüßen“, meinte er freundlich. „Alles ist ok.“
Ich fühlte mich besser.
„Danke, das freut mich.“
„Und? Wie hat es dir gefallen bei L'Homme?“
„Ganz ehrlich, die Leute in Saly sind nicht so mein Ding.“
Assane lächelte und bestellte ein Bier. „Verstehe ich. Aber sie haben sich auch sehr über dich gewundert.“
„Ach ja?“
„Schon.“
„Warum?“
„Na ja, kurzgefasst: Ein Mann wäscht nicht ab im Senegal.“
Assanes Lächeln war zwar ein wenig verschmitzter geworden, dennoch war ich überrascht.
„Ein Mann im Senegal serviert seinen Gästen also lieber dreckige Teller?“
„Abwaschen ist Frauenarbeit. Und die Männer sehen es nicht gerne, wenn ein Mann Frauenarbeit macht.“
Mir war nicht ganz klar, wie ernst unser Gespräch war.
„Ich bin ja selber keine Kampf-Emanze, aber ich glaube nicht, dass Frauen zum Putzen da sind.“
Assane grinste. „Das wissen die Männer hier auch. Und deshalb haben sie Schiss. Weißt du“, meinte Assane und nahm einen Schluck Bier, „die meisten Männer hier sind faul. Sie reden viel, sie
verschwenden das Geld und sie bringen nichts weiter. Frauen sind da anders. Wenn es bei uns ein paar Kampf-Emanzen mehr gäbe, würden alle Männer abwaschen und die Frauen könnten in Ruhe das Business machen. Also putzen senegalesische Männer nicht. Um die Frauen nicht auf dumme Gedanken zu bringen ...“
Ich hob mein Bier: „Chi – Chinese und Wegbereiter der Emanzipation, angenehm.“
„Santé“, sagte Assane. „Und willkommen zurück.“
Die Stimmung im Lokal war besser geworden. Die Musik dröhnte jetzt aus dem mächtigen PA-System und einige der Neujahrsleichen hatten sich sogar auf die Tanzfläche begeben, um ihre müden Hüften zu biegen. Es war der erste Abend eines neuen Jahres, hin und wieder wehte die kühle Abendbrise einen Stoß frischer Luft durch die schwingende Tür des Clubs und ich war froh, wieder in Dakar zu sein. Assane hatte den Leuten am Workshop-Tisch entspannt zugenickt, der Skilehrer und Oberguru – er hieß Aylin – war zu uns herübergekommen, um Assane mit großer Baye Fall-Geste und den ewigen Worten „Maximum respect, Sërigñ Senghor“ zu begrüßen, und hatte damit auch mein Ansehen in der Gruppe seiner Schüler erheblich gesteigert. In
einem unbeobachteten Moment überreichte ich Assane schließlich L'Hommes Silvesterlosung – ein dickes Paket verschlissener Scheine, halb gerollt und von einem Gummiring zusammengehalten – und fühlte mich sehr integriert im lässig verkaterten Dakar des ersten Jänner 2002. Bis ein eleganter Schwung der schwarzen Türflügel Susanne ins Kily wehte. Diesmal die echte. Sie steuerte sofort auf den Tisch mit den Workshop-Teilnehmern zu, in ihrem Schlepptau hatte sie einen sehr großen, sehr schlanken Schwarzen in einem gewaltigen afrikanischen Hemd. Mein Magen krampfte sich für einen Moment zusammen und Assane sagte: „Uh.“
Die Weißen begrüßten einander überschwänglich – endlich waren sie es einmal, die hier jemanden kannten –, dann geschah das Unvermeidliche: Susanne erkundigte sich nach Assane und drehte sich in Richtung der eifrig ausgestreckten Finger zur Bar um. Wo ich saß.
„Cheers“, sagte ich. Und: „Ein gutes neues Jahr, euch beiden.“
Ich wollte nicht wieder alleine an der Bar hocken bleiben und es wäre lächerlich gewesen, trotzig aufzubrechen, also hatten wir uns alle an einen Tisch gesetzt und plauderten lustig drauflos. Es war nicht schlimm, Susanne wiederzusehen. Sie sah gut aus, saß neben ihrem Momou oder wie er hieß und ließ sich nichts anmerken. Niemand an unserem Tisch konnte auf die Idee kommen, wir hätten vier Jahre lang in derselben Wohnung gelebt und im selben Bett geschlafen und das mit großer Begeisterung. Sogar mir kam das ein wenig unwahrscheinlich vor. Susanne war hier als Afrikaexpertin, als Frau eines schwarzen Mannes, an deren Lippen alle hingen, und sie sprach den Workshop-Teilnehmern Mut zu, sich mehr auf die eigenen Füße zu stellen und auch selbst einmal etwas zu unternehmen. Diese Idee gefiel Ruth, der Workshop-Susanne, nicht besonders. War ihr Leben doch auch schon schwer genug, wenn einfach alle taten, was sie sagte. Also sagte sie: „Gehen wir tanzen“, und ihre Schützlinge wackelten los, um zum stillen Gaudium aller Gäste auf der Tanzfläche eine Art schwabbelige Afro-Dance-Aerobik-Nummer abzuziehen. Streng nach Lehrbuch drehten sie ihre Hüften und reckten ihre Arme, in ihren
konzentrierten Mienen tickte angestrengt das Work-out-Metronom: „Eins, zwo – vor, zurück ...“
Assane, Susanne, ihr hübscher Momou, Aylin und ich waren sitzen geblieben und Assane erwies sich einmal mehr als großer Diplomat, der dem Schweigen keine Chance ließ. Um uns bullerte die Musik, in vier verschiedenen Sprachen wurden Witze gerissen und Glückwünsche ausgetauscht und ich studierte die Maserung unseres Tisches. Susanne saß mir schräg gegenüber, ihr erstaunlich flüssiges Wolof ließ ihre Stimme fremd klingen und ich war überrascht, als sie mich zwischendurch in ihrem vertrauten, warmen Deutsch fragte, was ich so gemacht hatte. Ich fühlte mich nicht nach einem freundlich interessierten Geplauder über Land und Leute, also hielt ich meinen Bericht kurz und fragte sie – ohne ironischen Unterton –, worum es eigentlich ging, bei ihrem Projekt. Vielleicht war die Frage etwas unvermittelt gekommen, vielleicht hätte ich sie einfach viel früher schon mal stellen sollen, jedenfalls sah mich Susanne für einen Moment lang ein bisschen komisch an. Trotz ihres neuen Lebensmittelpunktes, trotz Momou und trotz ihrer unantastbaren Souveränität als geschichtslose Afrikaexpertin konnte ich in diesem Moment sehen,
dass ich nicht der Einzige an unserem Tisch war, der von unseren gemeinsamen Jahren wusste. Es war egal, aber es war auch schön und brachte mir einen langen, dunklen Blick von Momou ein.
Irgendwann hatte Susanne dann begonnen, voll Elan von ihrem Projekt zu erzählen. Unser letzter Moment war vorüber und ich erfuhr, dass die Frauen eines Dorfes im struppigen Hinterland von Thiès begonnen hatten, ihre traditionelle Arbeit nach ihren eigenen Vorstellungen zu vermarkten. Mithilfe einer sehr angesehenen Künstlerin – Momou nickte gravitätisch, um die Bedeutung der Künstlerin zu unterstreichen – hatten die Frauen ein Agrotourismuskonzept entwickelt, das über europäische Partnervereine sehr selektiv promotet wurde und dessen Kern die Weitergabe des handwerklichen und agrarischen Wissens der afrikanischen Frauen bildete. Wer einen der Workshops in diesem Projekt buchte, lebte und arbeitete mit den Leuten im Dorf, allerdings nicht als Projektkoordinator oder technischer Leiter, sondern als Lehrling am Webstuhl und auf den Feldern. Schließlich konnte „voneinander lernen“ nicht heißen, dass wir Toubabs anspaziert kamen und jedem erzählten, wo es lang ging. Die EU hatte
angeblich Fördermittel zugesagt, mit dem Lac Rose und einem Tierpark gab es auch ein oder zwei Ausflugsziele für die freien Tage, die man den lernwilligen Besuchern einräumte, und Susanne wollte ein weiteres Jahr hier bleiben, um später umfassend über das Projekt zu publizieren.
Sie erzählte vom Stolz und der Begeisterung der Frauen, von der Freude darüber, in ihrer lähmenden Alltagsarbeit, zu der das Männer- System sie zwang, einen Wert und eine über die reine Systemerhaltung hinausgehende Bedeutung zu erkennen und ich erlaubte mir, meine frisch gewonnenen Erkenntnisse zum Thema Männer und Abwasch zum Gespräch beizusteuern. Assane zwinkerte mir verschwörerisch zu und meinte, es gäbe in seinem Land Männer, die wesentlich Schlimmeres fürchteten, als den Abwasch machen zu müssen, sollten die Frauen je ans Ruder gelangen. Momou hatte sich inzwischen in ein Gespräch mit Aylin vertieft und ich war sicher, dass es dabei nicht um die Notwendigkeit ging, haushälterische Fähigkeiten zu erwerben. Susanne lachte kämpferisch. Sie sah das Projekt als Keimzelle einer sehr freundlichen Form der sozialen Revolution und war dementsprechend in ihrem Element. In ihren
Ausführungen legte sie allerdings größten Wert darauf festzustellen, dass es bei aller gesellschaftlichen Sprengkraft nicht allein darum ging, die bestehende Unterdrückung der Frauen in einem männlich dominierten System zu beenden, sondern auch darum, den Dialog der Kulturen auf einer anderen Ebene fortzusetzen. Einer Ebene, auf der das Wissen der Weißen und das Wissen der Schwarzen ebenbürtig waren; auf der traditionellen Heilmethoden jene Anerkennung entgegengebracht wurde, die ihnen die Schulmedizin stets verweigert hatte; auf der schonende Ackerbaumethoden ohne Dünkel verglichen und für den zukunftsträchtigen Gedanken der sustainability wesentliche praktische Erkenntnisse gewonnen werden konnten.
Ich hörte Susanne gerne zu. Sie hatte sich viel vorgenommen, war begeistert und in Fahrt und ich erinnerte mich an frühere Abende, an denen meine Verliebtheit mir geholfen hatte, ihre Begeisterung zu teilen. Aber ich war nicht mehr in sie verliebt. Und bei allem Respekt vor den Überzeugungen, zu denen sie gekommen war, war ich mir sicher, dass es für die Kulturen das Beste war, einander in Ruhe zu lassen. Warum sollte man in die entlegensten Winkel der Welt Leute schleppen, die dort am Leben anderer Menschen teilnehmen wollten; die Intensität ihrer Begegnungen und Erlebnisse im interkulturellen Dialog fein dosiert wie den Strahl einer Brause oder die Klimaanlage im Auto? Wann immer Henning und ich irgendwo mit unserer Kamera aufgetaucht waren, hatte es keine Zweifel über unsere Absichten gegeben. Wir waren gekommen, um den Menschen ihre Seele zu stehlen. Das war unser Job und jeder hatte eine faire Chance zu verstehen, worum es dabei ging. Aber was war der Sinn dabei, wenn Urlauber ihre Hotelburgen verließen, um sich ein echteres Leben vorführen zu lassen als den Kitsch, den man „all inclusive“ buchen konnte? Was würden die Workshop- Teilnehmer mit nach Hause nehmen?
Tanzen hatten sie bestimmt nicht gelernt. Oder was konnte man in einem Monat im agrotouristischen Dorf erfahren? Dass man die Getreidemühle umsonst gekauft hatte, weil man Hirse auch im Mörser stampfen kann? Was schließlich hatte ich davon gehabt, mich in das Leben des Village Indigène zu drängen? Ausgerechnet in dem Moment, in dem ich mich – schwitzend, schrubbend und mit schleimigem Dreck gepanzert gegen das Gefühl, nichts als ein Tourist zu sein – den Leuten in Saly zum einzigen Mal nahe gefühlt hatte, war ich ihnen am unbegreiflichsten gewesen. Wenn man sich für den Dialog der Kulturen nicht mehr Zeit nehmen konnte, als einem an Urlaubsanspruch zustand, konnte er einem nichts bieten, als die Möglichkeit, sich lächerlich zu machen.
Maymouna war noch nicht wieder aus Fatick zurück. Ouleymatou hatte mit ihrer Gefolgschaft mein Geld durchgebracht und Dakar knapp vor Silvester schwer beladen verlassen. Die Geschichte war so weit erledigt. Ich hatte Assane gegenüber trotzdem darauf bestanden, selbst für mein Quartier zu sorgen, und die Nacht im Workshophaus nahe der Universität verbracht. Wie sich gezeigt hatte, war Cheikh nämlich gar nicht Mamadous Bruder und lebte auch nicht in dessen Haus. Er war dort viel mehr selbst nur zu Gast gewesen, hatte mir ein paar CFA abgeluchst und war knapp nach Assanes Ankunft unbemerkt verschwunden. Offenbar hatte er gewusst, dass der Enkel des Präsidenten und sein Gastgeber befreundet waren.
Für den frühen Vormittag hatte ich mich mit Assane vor Yadikons Haus verabredet, um die Mague nach Hause zu fahren. Die Medina war noch nicht richtig wach, als ich mit dem Pajero durch die Gassen kurvte, vereinzelt stöberten Ziegen im Müll neben der Straße, bunte Wäschestücke baumelten träge im Wind. Nur die Rue Cadi Medoune Diéne befand sich in hellem Aufruhr.
Wild durcheinanderschreiende Männer mit Ziegen, Paketen und Kalebassen ließen keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Aufbruch der Karawane in den Sine Saloum kurz bevorstand.
Im Gewirr der fuchtelnden Hände und dunklen Köpfe erkannte ich Assanes leicht gebeugte Gestalt und fragte ihn, ob ich zu Yadikon gehen und ihr meine Kerze schenken durfte.
„Sie wird sich sehr freuen“, meinte Assane lächelnd.
Ich tauchte durch das unablässige Feilschen und Drängen, das Meer aus raschelnden Boubous und den trockenen Geruch fremder Haut und schlüpfte zum kleinen eisernen Tor von Yadikons Haus hinein in den sonnigen Hof, den ich vor kaum einer Woche und doch letztes Jahr verlassen hatte. Die Mague waren nicht da, der Hof lag verlassen in der Sonne und ich ging die vordere der beiden Treppen hinauf. Vorbei an üppig bepflanzten Blumentöpfen schritt ich über den rissigen Boden der Terrasse und klopfte an den grün gestrichenen Flügel jener Türe, aus der Yadikon an unserem ersten großen Abend an Maymounas Seite getreten war.
„Egsil!“, hörte ich Yadikons brüchige Stimme im dunklen Inneren des Hauses und trat ein. „Ah, Chi. Gej naa la gis. Foo nekkoon?“
„Dama ... tukki“, versuchte ich.
„‚Dama tukkiwoon’ ist richtig“, lächelte Yadikon. Sie raschelte mit ihren Röcken und erhob sich aus ihrem wackeligen Ohrensessel, dem einzigen Stuhl
im Haus, der den Luxus von Armlehnen zu bieten hatte.
„Ich bin froh, Sie zu sehen.“
„Ich auch“, sagte Yadikon und kam auf mich zugeschlurft. „Geht es gut?“
„Waaw, maangi fi rekk. Na nga def?“
„Jamm rekk, mba kenn feebarul?“
„Jamm rekk“, meinte ich auf's Geratewohl und Yadikon lächelte.
„Gut, sehr gut. Sie sprechen sehr fein Wolof.“
„Frohe Weihnachten – verspätet“, sagte ich und überreichte Yadikon die Kerze.
„Oh, die ist sehr schön, vielen Dank. Das ist sehr freundlich.“
Yadikon brachte die Kerze zu ihrem Bücherbord und stellte sie unter das Papstbild.
„Ich habe auch etwas für Sie.“
„Ich bitte Sie, das ist doch nicht ...“
„Es ist von Maymouna.“ Yadikon nahm ein in Papier geschlagenes Buch von ihrem Bord und reichte es mir. „Sie wollte, dass Sie es lesen. Vielleicht schreiben Sie uns einmal?“
„Sehr gerne. Das ist sehr, sehr freundlich, danke schön.“
„Es ist ein trauriges Buch.“
Yadikon lächelte und versank wieder in ihrem Sessel. Die Audienz war beendet und ich trat hinaus in den Hof. Das Licht blendete mich und ich setzte mich neben der Küche in den Schatten, um mir das Buch anzusehen. Ich wickelte es aus dem dünnen, braunen Papier, in das es Maymouna verpackt hatte, und sah, dass es offenbar schon durch viele Hände gegangen war. Es war 1982 erschienen, ein Jahr nach Maymounas Geburt. In der rechten oberen Ecke des Deckblattes stand als Exlibris ‚Mariemé Traoré’, der Name der ersten Frau von Maymounas Vater. In der Mitte des Blattes stand in derselben Schrift eine Widmung, die das Buch Maymouna übertrug, und ganz unten in der Mitte stand in einer anderen Schrift ‚Weihnachten 2001, für Chi’. Der Klappentext gab, soweit ich verstand, über die außergewöhnliche Qualität des Buches Auskunft und deutete an, dass es von einer Mischehe handelte, die an den kulturellen Unterschieden zwischen den Partnern scheiterte und mit dem Selbstmord der Frau endete. Das war immerhin unmissverständlich.
Die Morgensonne tauchte den Hibiskus in ihr goldenes Licht und ich saß noch eine Weile auf der Bank neben der Küche, bis Assane mich rief und wir mit den Alten aufbrechen konnten.
Diesmal sollten wir sie nach Joal bringen, jenem Ort, der entgegen der Überzeugung der mütterlichen Senghor-Linie aus Djilor für sich in Anspruch nahm, Heimatstadt des Dichters und Präsidenten zu sein. Trotzdem wollte man auch dort um Unterstützung für die traditionelle Zeremonie im Februar werben, die die ländlichen Familienmitglieder als Ausgleich zur Beisetzung in Dakar organisierten. Die Mague sahen müde aus, hinten in meinem Wagen. Auch sie hatten eine harte Woche Propaganda hinter sich und wenn ich ihr Mienenspiel richtig deutete, war das Versöhnungsangebot an die Usurpatoren aus Joal-Fadiout vor allem auf das mangelnde Interesse der politischen Prominenz in Dakar zurückzuführen, die kein Interesse an der geplanten Bestattungszeremonie in Djilor gezeigt zu haben schien. Die Alten saßen schweigend auf der Rückbank, eine Reihe hinter ihnen schaukelte der Kopfschmuck der Großmütter im Rhythmus der Schlaglöcher unter dem Wagendach. Die Straßen waren wie leer gefegt. Wegweiser nach Saly, Mbour, zum Tierpark von Nianing und zu anderen Attraktionen ragten unbeachtet in die heiße Luft eines subtropischen Mittags; ich hielt nicht
an, bis wir Joal erreicht hatten. Der Ort lag an der Grenze zwischen dem touristischen Kapital der petite côte und den Mangrovenwäldern des Sine Saloum Deltas, in das Touristen üblicherweise nur im Rahmen von Tagesausflügen gekarrt wurden. Der Ort selbst war eine pragmatisch anmutende, schmucklose Siedlung, die hinter den üppig begrünten Hecken der Ausflugsrestaurants an der Küste im flachen Hinterland einer weitläufigen Lagunenlandschaft verschwand. Sandige Parkplätze für die Busse der Tagestouristen lagen öde in der sengenden Sonne, offensichtlich fühlten sich die Silvestertouristen auch am zweiten Tag des neuen Jahres nicht nach Ausflügen, deren Ziel jenseits der Hotelbars lag.
Wir lieferten die Mague in einem herrschaftlichen Haus nahe des Senghor-Museums ab, dessen leuchtend koloniales Weiß schon von Weitem ins Auge stach. Ich ließ den Wagen im Schatten des Anwesens stehen und schritt mit Assane vor zur Lagune. Das Senghor-Museum hatte geschlossen, aber Assane ließ es sich nicht nehmen, mir das Denkmal eines anderen großen Sohnes von Joal zu zeigen. An der Küstenstraße erinnerte die Statue eines unmäßig muskulösen Mannes an Mandallah, den großen Laamb-Kämpfer, der zehn Jahre lang ungeschlagen in Dakar als Champ regierte hatte. Inzwischen war er von einem Knaben abgelöst worden, der sich Tyson nennen ließ und bevorzugt mit der amerikanischen Fahne um die Schultern posierte.
Die eigentliche Attraktion von Joal war jedoch der Stadtteil Fadiout, der auf mehrere Inseln verteilt in den Mangrovenwäldern vor der Küste lag. Fadiout war über eine einzige Holzbrücke mit dem Festland verbunden, die wir begleitet von einem Guide des lokalen Tourismusverbandes passierten. Assane hatte mich gebeten, in eine Führung einzuwilligen, da ein Teil der Gage dieser offiziellen Guides der Erhaltung der einzigartigen Inselwelt zugutekam. Wenn ich hier schon gegen meine frisch gewonnenen Überzeugungen mit Shorts und Sonnenkäppchen durch das Dorf von Leuten spazierte, die ich nicht kannte und deren Lebens- umstände ich wie ein museales Tableau vivant zu betrachten beabsichtigte, konnte ich zur Buße gerne eine Führung über mich ergehen lassen. Der Guide fand es zu meiner Erleichterung wesentlich interessanter, mit Assane zu quatschen, als mich mit allfällig Wissenswertem zu behelligen und so verbrachte ich einen sehr entspannten Nachmittag auf den Inseln von Fadiout, nur gelegentlich gestört von der Bekanntgabe unverzichtbarer Informationen, wie der, dass die Inseln fast ausschließlich aus Muschelschalen bestanden, was – wie der Guide routiniert lachend erklärte – darauf
schließen ließ, dass auch seine Vorfahren schon gerne Seafood gegessen hätten. Wie auch immer, aus ihren Speiseresten hatte sich eine erstaunliche Welt gebildet.
Die Hauptinsel war relativ flach und dicht bebaut, ausladende Laubbäume bildeten gemeinsam mit dem Gewirr der Wäscheleinen und Stromleitungen eine Art Baldachin über den schmalen Gassen von Fadiout. In der Mitte des Dorfplatzes stand eine Kirche, die entfernt an ein Zirkuszelt erinnerte. Auch hier bildete das Geschäft mit den Touristen ganz offensichtlich den Haupterwerb der Bewohner – es gab einige Kioske, Souvenirgeschäfte und Auberges – aber die Probleme, die ich in Saly erlebt hatte, schienen hier nicht so drückend zu sein wie im fröhlichen Herzen der petite côte. Die Händler und Wirte grüßten unseren Guide, Assane plauderte ein Weilchen mit einer älteren Frau, die im Schatten der Kirche saß, und mir brannte die Sonne auf den Schädel. Niemand nahm ernsthaft Notiz von mir, ab und zu sagte jemand freundlich „Ça va“, oder fragte, ob ich ein Cola wollte; die Leute in Fadiout gingen mit dem Interesse, das wir käsigen Rotohren ihren Inseln entgegenbrachten, absolut souverän um.
Etwas abseits der Wohninsel konnte man zwischen den saftig grünen Mangrovenwäldern eine riesige Sandbank erkennen – die Vorratskammer von Fadiout. Die fast gänzlich kahle, flache Insel war übersät mit strohgedeckten Pfahlbauten, die als Getreidespeicher dienten und nur mit dem Boot erreicht werden konnten. So war die Ernte vor Nagern und anderen Schädlingen geschützt. Der Vorratsinsel gegenüber lag unserem Guide zufolge der Mont Blanc, eine Insel, die sich im strahlenden Weiß des Muschelkalks einige Meter über den Meeresspiegel erhob. Sie war über eine Brücke mit der Hauptinsel verbunden und beherbergte den Friedhof von Fadiout. In ungezwungenem Durch- einander standen hier die hell weißen, französischen Kreuze der christlichen Gräber gemischt mit muslimischen Grabtafeln unter den ausladenden Affenbrotbäumen und vermittelten den Eindruck einer jenseitig harmonischen Welt. Assane und der Guide waren auf der Brücke bei einem alten Mann stehen geblieben, der mit einem Wurfnetz Jagd auf winzige, silberne Fischchen machte. Ich hingegen hatte mich zu einer Besteigung des Mont Blanc entschlossen. Der Muschelkies knirschte unter meinen Schuhen,
Wind und Eidechsen raschelten im dürren Gras unter den schwarzen Baobabs, die Farben dieser Insel waren überwältigend intensiv: Das Schwarz der Baumstämme, das ockerfarbene Gras, die strahlend weißen Kreuze vor dem Dunkelblau des Meeres, alles eingefasst in das satte Grün der endlosen Mangrovenwälder. Ich saß im Schatten eines mächtigen Strauches und blickte auf das friedliche Wasser der Lagune. Rund um die Friedhofsinsel standen Droschken am Ufer, eine neben der anderen, dicht an dicht wie ein Schildwall. Die Deichseln ragten selbstbewusst in die Höhe, als gälte es, den Frieden der Insel zu verteidigen. Mich allerdings konnten sie nicht schützen. Ich hatte in diesem Urlaub zwei Frauen verloren, eine vergangene und eine zukünftige, und mein Bedürfnis nach Geborgenheit war nach den Tagen in Saly lächerlich drängend. Am liebsten wäre ich hier geblieben. Notfalls sogar begraben.
Benommen von dem sentimentalen Anfall, den mir das liebliche Fadiout beschert hatte, stapfte ich neben Assane durch Joal. Bisher hatte ich Afrika als unsentimentalen, niemals idyllischen Ort erlebt und das hatte mir gutgetan. Leider konnte man sich aber auch darauf nicht verlassen und seit dem Nachmittag auf der Friedhofsinsel schleppte ich Maymounas Buch mit mir herum, als wäre es der Grabstein meiner jungen Braut. Es war früher Abend und Assane hatte meine lethargische Stimmung registriert. „Ich werde dir etwas zeigen, das dir gefallen wird“, meinte er.
Wir wanderten in der milden Abendsonne durch Joal, vorbei am Krankenhaus, in das es Senghors Vater nicht mehr geschafft hatte, und ließen nach und nach den ohnehin nicht sehr ausgeprägten städtischen Teil von Joal hinter uns. Wir spazierten eine breite, sandige Straße entlang, links und rechts standen einfache Häuser, Gärten mit frei laufenden Hühnern und sehr extensiven Gemüsebeeten zogen sich weit ins Land. Die Leute saßen im Freien zusammen, es gab nicht viel zu tun am Ende des zweiten Tages im Jahr.
Nach einer Weile stieß Assane eines der Gartentore auf und sagte: „Tritt ein.“
Wir schritten in den Garten, der Boden war weich und sandig, irgendwo bellte ein Hund.
„Wohnen hier Freunde von dir?“
„Nicht direkt.“
Assane bot mir einen klapprigen Stuhl an und wir nahmen ohne Weiteres im Garten fremder Leute Platz. Ein neugieriges Huhn stelzte mit ruckendem Kopf auf meine bleichen Zehen zu, zwischen zwei Obstbäumen – aus ihren feigenartigen Früchten konnte man Marmelade machen oder Schnaps – war eine Wäscheleine gespannt. Äußerst rustikale Unterhosen hingen zum Trocknen hier. Aus dem Haus drangen gedämpft die Geräusche haushälterischer Aktivitäten.
„Und?“
„Ndànk, ndànk, du wirst sehen.“
Assane hatte auf einem Gartenstuhl aus Plastik Platz genommen, dessen Lehne gebrochen und mit dicker Bastschnur wieder genäht worden war. Wir saßen inmitten locker bepflanzter Beete – ich erkannte Tomatenstauden und diverse Gewürze, an einem niedrigen Strauch hingen giftig rote Pimentschoten.
In einer Ecke des Gartens standen einige Stühle, die noch wackeliger aussahen als unsere. Schließlich trat eine stämmige Frau aus dem Haus und stellte einen kleinen Tisch vor uns hin, während sie mit Assane einen formvollendeten Begrüßungssermon austauschte. Zu mir sagte sie mit frechem Grinsen „Ah, Peulh blanc“ und Assane lachte. Er bestellte etwas zu trinken und die Frau holte zwei Flaschen aus ihrer Küche. Eine gefüllt mit trüber Flüssigkeit, die andere mit einer stechend klaren. Wenn ich das richtig einschätzte, ging es um Palmwein und Selbstgebrannten.
„Was ist das hier?“, fragte ich Assane.
„Ein Clando. Hierher kommen die Senegalesen, wenn sie trinken wollen. Das muss heimlich geschehen. Viele sind Muslime.“
„Aber getrunken wird trotzdem.“
„Die meisten Menschen in meinem Land sind sehr gläubig. Sie sind gute Moslems. Aber sie halten sich eben nicht an alle Gebote.“
Der Palmwein war dämonisch. Er roch wie Seife und in seinem säuerlichen, unfertig vergorenen Geschmack lag eine Vorahnung des Durchfalls, den er einem bescheren würde. Also hielt ich mich an den Selbstgebrannten.
Assane meinte, man sagte "Sumsum" dazu, was die Sache sauber auf den Punkt brachte. Sumsum war ein bösartiger, starker Schnaps, der einem den Schädel brummen ließ und der Wahrnehmung jede Tiefenschärfe nahm. Ich lehnte mich zurück, soweit das mein Sessel zuließ, und streckte die Füße aus. Es war ein guter Ort zum Reden. Die Mattigkeit des Alkohols senkte sich gemeinsam mit der abendlichen Dunkelheit über mich und ich fühlte mich sehr gelassen.
„Maymouna hat mir das hier geschenkt“, sagte ich und legte das abgegriffene Exemplar von ‚Le Chant écarlate’ auf den Tisch. „Was hältst du davon?“
„Uh“, meinte Assane, „ehrlich gesagt mir gefällt ‚Un Si Longue Lettre’ besser. Aber ich gebe ganz allgemein Aminata Sow Fall den Vorzug ...“
„Ich wollte hier kein Literaturseminar eröffnen ...“
Assane lächelte. „Ich verstehe schon, was du meinst. Was denkst du darüber?“
„Mein Französisch reicht leider kaum für den Klappentext, aber immerhin habe ich verstanden, dass die Frau in dieser gemischten Ehe stirbt. Das hört sich nicht wie eine Einladung an, noch mal was von mir hören zu lassen.“
„Lieber Himmel, nein“, sagte Assane entsetzt, „so
darfst du das nicht sehen! Ich bin ganz sicher, dass Maymouna nicht befürchtet, an einer Beziehung mit dir zugrunde zu gehen. Sie ist ein sehr starkes Mädchen und würde dir deine roten Ohren schon lang ziehen.“
„Ein tröstlicher Gedanke.“
„Im Ernst, ich verstehe, weshalb du gleich an das große Drama denkst. Bei uns ist das genauso: Die meisten Leute hier haben ein sehr irrationales Verhältnis zu Europa. Die einen glauben, dass man nur dort glücklich werden kann, und verkaufen ihre Kinder, um hinzukommen, die anderen haben Angst davor, weil sie so viele ihrer Verwandten in Europa haben kaputtgehen sehen.“ Assane nahm einen Schluck Sumsum. „Und ihr Europäer seid um nichts besser. Stell dir mal vor, Maymouna wäre eine käseweiße Norwegerin.“
Ich musste lachen. Der dunkle Himmel spannte sich sanft und warm über die aromatische Savanne, hier und jetzt an käseweiße Norwegerinnen zu denken, war durchaus komisch.
„Siehst du“, lächelte Assane „bei einer Norwegerin würdest du dich nicht so anstellen. Aber kaum geht es um eine Afrikanerin, kriegst du eine Krise wegen Sextourismus oder du glaubst, du müsstest die
Sünden von 500 Jahren übler Geschichte wieder gutmachen, oder in einen interkulturellen Dialog eintreten oder was weiß ich. So oder so, du siehst nur ihre schwarze Haut. Aber weißt du, was ich glaube?
Dieses Buch ist ein sehr intelligentes Geschenk. Es zeigt dir etwas von dem, was drinsteckt in Maymounas schwarzer Haut. Etwas von ihrer Sicht der Dinge, ihrer Welt. Diese Autorin, Mariama Bâ, steht in einer Tradition von Schriftstellerinnen, die sich gegen die Selbstaufgabe der Frauen auflehnen. Ihre Bücher waren immer etwas Besonderes für die Frauen aus der Traoré-Familie. Sie haben Maam Mariemé genauso bestärkt, wie sie heute Maymouna bestärken. Und Kraft haben die beiden immer nötig gehabt, glaub mir. Vielleicht schreiben sie nicht über ihren Kampf, aber sie lehnen sich jeden Tag gegen das traditionelle Familienleben auf. Gegen die Vorherrschaft der Männer, gegen die Polygamie, gegen die Überzeugung, dass die Frauen ihre Arbeit im Haushalt finden sollen. Und gegen die Art der Frauen, sich nach wie vor mit dieser Ordnung der Gesellschaft zu arrangieren. Darum geht es in diesem Buch und darum geht es in Maymounas Leben. Ein guter Weg, dir das zu zeigen.“
Die Wirtin des Clando stellte einen Korb mit Brot vor uns hin, damit wir etwas zu beißen hatten zu unserem Schnaps. Es war festes, selbst gebackenes Baguette und der Wind hatte eine Prise Sand ins Mehl geblasen. Kleine Steinchen knirschten zwischen unseren Zähnen, ich hörte es in Assanes Mund krachen und er lächelte. Inzwischen war es fast völlig dunkel, aber der Mond war aufgegangen und außer uns hatten noch zwei oder drei Gäste im Garten Platz genommen, die still und ohne Hast tranken.
Ich war nicht der Mann, an dessen Seite eine Frau ihre Emanzipation durchkämpfen konnte. Susanne hatte mir das gezeigt, mit Maymouna wäre es nur noch schwerer geworden. Assane und ich waren noch lange im Clando gesessen und hatten heimlich getrunken. Er hatte mir von seiner Hoffnung erzählt, einmal eine Frau zu heiraten, und nicht ihre ganze Familie. Assane wollte sich etwas aufbauen in seinem Land. Ein neues Lebensgefühl entwickeln. Er hatte Respekt vor den Menschen, vor der Tradition und den Gründen, aus denen sie starb. Und er konnte mit einer Frau umgehen, die mehr sein wollte als nur gut für ihren Mann. Vielleicht wäre ja er der Richtige für Maymouna.
Ich jedenfalls war nur zu Besuch gewesen und mein Urlaub ging zu Ende. Spät in der Nacht hatten Assane und ich Adressen getauscht: „Ich werden dir schreiben.“ – „Klar, und ich dir.“ Man wirft solche Zettel nicht weg, sie gehören zu einer Erinnerung. Aber ich habe in meinem Leben noch keinen Brief an eine Urlaubsbekanntschaft geschrieben. Nicht aus Italien, nicht aus Holland, nicht aus Norwegen oder sonst wo her.
Am frühen Morgen des dritten Jänner war ich aufgebrochen, hatte Joal-Fadiout hinter mir gelassen, Mbour und Saly, Rufisque und Dakar. Ich war direkt zum Flughafen gefahren, hatte mein Gepäck eingecheckt und mich über Hertz geärgert, die meinen Selbstbehalt kassierten, weil der Wagen angeblich nach vergammeltem Fisch roch. Zwischen all den Gepäckträgern, Bettlern, Verrückten und kleinen Kindern, die sich in der Hoffnung auf ein paar Münzen, ein Geschäft oder eine unbeaufsichtigte Tasche vor dem Haupteingang des Flughafens herumtrieben, war mir ein großer Schwarzer aufgefallen, der an Albinismus litt. Er wankte ununterbrochen murmelnd zwischen den Wartenden umher und schien seinen Landsleuten ebenso wenig geheuer zu sein wie den weißen Reisenden. Sein zerfetzter Boubou hatte die Farbe von schmutzigem Asphalt und als ich an ihm vorbei ins Gebäude gehen wollte, wandte er mir seine blinden Augen zu und sagte schroff: „Verschwinde! Komm nie wieder, Baguette!“
Ein Sicherheitsbeamter stieß ihn zur Seite, damit ich passieren konnte, aber der Mann hatte recht. Ich würde nie wieder kommen. Ich hatte hier nichts verloren.
Im Flugzeug gingen die Stewardessen vor dem Start mit je zwei Dosen Raumspray in der Hand durch die Gänge und nebelten uns mit künstlichem Kiefernaroma ein. Die Gerüche Afrikas versanken in einer Wolke von Sterilität, zum Essen wurden Minibaguettes serviert, eingeschweißt in Folie. Ich riss das Cellophan auf und betrachtete das Gebäck von allen Seiten. Nichts gab einen Hinweis darauf, woher dieses Backstück kam oder wozu man es verwenden sollte. Es roch nicht nach Essen, ich fühlte keine Kruste, keine Spur von Mehl, keine Steinchen. Aber es hatte die perfekte Form, die perfekte Konsistenz und hätte ich seine Hülle nicht verletzt, wäre es erst 2005 verdorben. Es war essbare Eigenschaftslosigkeit. Ich war wieder zu Hause.